Die Ukraine als Übergang
Des
öfteren war der Satz zu hören, daß nicht mehr zurückzudrehen sei, was jetzt auf den
Straßen in der Ukraine geschieht. Es sei eine Revolution, welche sich in den Menschen
abspielt, die sich nicht mehr wegducken, wenn die Mächtigen einmal mehr das Volk bedrohen
und betrügen.
Zu
hören war aber auch, daß es nach einem glücklichen Ausgang dieser "orangenen
Bewegung" sehr schwer werden wird, die aufgerissenen Gegensätze wieder zu verbinden.
Zwar war es vielen klar, daß demokratische Grundsätze ins Land hineingenommen werden
müssen und daß man sie nicht einem nahezu sowjetischen Machtanspruch oder einer
östlichen Clanherrschaft opfern darf. Jedoch sind die tieferliegenden Unterschiede
zwischen den westlich orientierten und den nach Osten hingewendeten Gebieten zu
überbrücken.
Die Ukraine hat viel Leid erlitten. In den Jahren des Stalinschen Terrors,
der zwischenzeitlich von dem nationalsozialistischen Terror abgelöst wurde, kamen wohl an
die zehn Millionen Menschen ums Leben. Allein durch die Zwangskollektivierung in der
Landwirtschaft und die dadurch hervorgerufenen Hungersnöte starben einige Millionen
Menschen. Dann traf es besonders die kulturellen, gebildeten Schichten, gegen die sich die
Unterdrückung des Stalinschen System richtete. Man wollte die Ukraine beherrschen und
erst gar keine Gegenwehr darüber aufkommen lassen.
Das milderte sich nach dem Tod Stalins, jedoch herrschte das Sowjetsystem
noch bis zum Jahre 1991. Erst seit der Unabhängigkeit sind wieder eigene
gesellschaftliche Regelungen möglich und die grundlegenden Erneuerungen in der
Verfassung auch schon eingeführt. Jedoch gibt es immer wieder Rückschläge, weil die
alten Kader weiterhin mitmischen und demokratische Gewohnheiten noch nicht etabliert
sind.
Die jetzigen Spannungen sind vielfach in der Geschichte des Landes
begründet. Der Ostteil etwa ist seit Jahrhunderten dem russischen Einfluß verbunden,
zum Teil auch mit Russen bevölkert. Das Russische wie auch das Ukrainische sind zwar
beides ostslawische Sprachen, unterscheiden sich jedoch auch voneinander.
Der Westteil stand lange unter polnischer, aber auch litauischer und dann
österreichisch-habsburgischer Hoheit. Es entstand eine enge Bindung an die europäische
Kultur, etwa in der Region von Galizien, wo auch ein stärkerer jüdischer Einfluß mit
dazugehörte.
Bekannt ist ja auch, daß auf ukrainischem Boden die neuere Phase der
russischen, aber auch eben der ukrainischen Entwicklung begann. Im 9. Jahrhundert
gründeten einige ostslawische Stämme hier das Kiewer Reich, in dem ebenso
byzantinisch-christliche Einflüsse hineinkamen wie auch skandinavische. Die Wikinger
hielten nämlich ihre Handelsbeziehungen bis zum Schwarzen Meer hin und wirkten hier mit
ihrer praktischen Veranlagung auf das sich bildende Geschehen. Das reichte bis zu
sozialen Organisationsfragen, womit sie auch mit am Anfang einer slawischen Verfassung
standen, die sich vom Kiewer Reich aus entwickelte.
Während Russland seinen neuen Schwerpunkt am Ende des 13. Jahrhunderts im
nördlicheren Moskau fand, stand die Ukraine, was "Grenzland" bedeutet, im
Wechselspiel verschiedener Richtungen. Eine eigenständige Erhebung ergab sich im Jahre
1917, was aber bereits zwei Jahre später durch die neuen bolschewistischen Machthaber
niedergemacht wurde. Daraufhin war im zwanzigsten Jahrhundert das sowjetische Joch zu
ertragen.
Eine Lösung kam erst durch die westslawischen Erhebungen zunächst der
Ungarn, dann 1968 in der Tschechoslowakei, wiederum etwa zwölf Jahre später schon
erfolgreicher in Polen. In diesem Kräfteringen kamen die Freiheitsimpulse auch nach
Ostdeutschland, was zur Aufhebung der Teilung führte. Daran Anteil hatte auch der
Öffnungsmut der ungarischen Regierung, welche die Grenze nach Österreich freigab.
Dieser kraftvolle Individualismus, der hier in diesen
mitteleuropäisch-östlichen Gebieten wirkte, ist wohl noch gar nicht genug gewürdigt
worden. Er wird aber sicher noch, auch im Zusammenhang mit
der Europäischen Union, zukünftig in Erscheinung treten. Wobei auch jene
Erfahrungen, die in diesen Ländern schon mit imperialen Bürokratieansprüchen gemacht
wurden, für alle sehr nützlich sein könnten.
Der neuerliche Aufstand in der Ukraine, gegen die Politbetrügereien einer
ostukrainischen Machtgruppe gerichtet, erweckt noch andere Empfindungen. Hinter den
Rechts- und Freiheitsimpulsen scheint noch etwas anderes zu wirken, fast mit einem
musikalischen Beiklang. Es wirkt wie eine Morgenröte, worauf vielleicht auch die orangene
Farbe der Bewegung weist. Die menschlichen Grundsätze des Rechts und der Freiheit müssen
gewahrt bleiben, damit sich eine tiefere Verbindung einstellen kann. Das erstere gibt
einen Boden ab für jenen eigentlichen menschlichen Bereich, mit dem wir zukünftig
leben wollen. Das was das Individuum mit seinem Höheren verbinden soll, tritt in
solcher Bewegung vorbereitend hervor.
Es ist ein Aufleuchten, das schon auf eine spätere Zukunft hinzielt und mit
der slawischen Entwicklung zu tun hat. Für sie ist die heutige Zeit eine Vorbereitung auf
ihre eigentliche Aufgabe hin. Dafür ist noch einmal - laut Rudolf Steiner - jene
Zeitstrecke zur Verfügung, die seit Gründung des Kiewer Reiches zurückgelegt wurde.
Erst gegen Mitte des 4. Jahrtausends verlagert sich die Mitte unserer Entwicklung ganz in
den slawischen Raum hinein.
Jetzt sind in dem an Russland anstoßenden Grenzland erst einmal die wirklich anstehenden
Aufgaben zu erledigen. Das Gebiet der östlichen, russisch geprägten Schwerindustrie
darf sich nicht abspalten, sondern muß mit seinen Besonderheiten in einem Staat
Berücksichtigung finden. Das ist auch eine Frage der Brüderlichkeit.
Es wäre wichtig, hierzu die Verbindung zu halten. Freiwillig zu einem
russischen Bereich, der lange meinte, die Beziehung mit Gewalt halten zu müssen. Der
große östliche Nachbar, mit dem man ja eine Wurzel hat, ist demgegenüber gefordert,
eine eigenständige Gesellschaftsgestaltung in der Ukraine besonders zu achten. Da ist
etwa ein europäischer Maßstab hierfür nichts Fremdes, sondern bitter nötig. Das
zeigt die neuere autoritäre Entwicklung in Rußland.
Die Erfahrung eines gerechten Staates, der die freiheitlichen Regungen
seiner Bürger garantiert und gleichzeitig wirtschaftliche Auswüchse verhindert, ist
diesem Lande zu gönnen. Dazu braucht es sicher vielerlei Hilfe, gerade von Europa aus. Es
soll natürlich nun nicht eine westliche gegen die vormalige östliche Vereinnahmung
getauscht sein. Aber allein jene Verwüstungen, welche die Atomkatastrophe von Tschernobyl
in diesem Land anrichtete, lassen umfangreiche Unterstützungen als Selbstverständlich
erscheinen. Denn wer hat daran nicht alles Mitschuld! Es muss sozusagen das Beste aus
Europa jetzt hereinkommen, nachdem solche Vernichtung stattgefunden hatte. Dann lassen
sich auch die eigenen Aufgaben besser bewältigen, die wiederum eine Zukunft eröffnen.
Jürgen Kaminski
Der
Bolkestein-Hammer
In Brüssel wird an einer Dienstleistungsrichtlinie gearbeitet, die Konzernen
Lohn- und Sozialdumping und das Unterlaufen von Arbeits-, Umwelt- und Verbraucherschutz
erleichtern soll. Richtlinien sind Rahmengesetze, die von der EU-Kommission ausgearbeitet
und vom Ministerrat und dem EU-Parlament verabschiedet werden. Viele sprechen vom
bedeutendsten EU-Projekt seit Einführung des Euro. Sollte diese nach ihrem Schöpfer,
einem ehemaligen EU-Kommissar, auch Bolkestein-Hammer genannte Richtlinie beschlossen
werden, müssten die Mitgliedsstaaten ihre Gesetze so ändern, dass für fast alle
grenzüberschreitend erbrachten Dienstleistungen in der EU das Herkunftslandprinzip gilt.
Herkunftslandprinzip heißt, dass Firmen, die Dienstleistungen in einem anderen Land
erbringen, nur den gesetzlichen Regelungen ihres Herkunftslands unterliegen. Sieben von
zehn Beschäftigten arbeiten im Dienstleistungssektor. Dazu zählen Branchen wie
Altenpflege, Müllabfuhr, Wasserversorgung, Handel, Baugewerbe, Handwerk oder
Glücksspiel. Für fast alle soll das Herkunftslandprinzip gelten. Unglaubliches
Rechtschaos wäre die Folge. 28 Rechtsordnungen würden parallel gelten. Weil Kontrollen
ohnehin kaum mehr durchführbar wären, sollen sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nur
noch den entfernten Behörden im Heimatland erlaubt sein. Diese dürften aber daran kaum
Interesse haben, weil sie von den Wettbewerbsvorteilen ihrer Unternehmen profitieren.
Selbst da, wo Standards bereits auf relativ hohem Niveau durch die EU angeglichen sind,
wären effektive Kontrollen nicht mehr möglich. Statt dessen fordert die EU-Kommission
von den Staaten mehr Vertrauen zueinander.
Damit Konzerne aus den Rechtssystemen immer das günstigste aussuchen können, soll die
Niederlassungsfreiheit gleich mit liberalisiert werden. So können Betriebe schnell
reagieren, wenn ein Land seine Standards senkt, um im Wettbewerb mitzuhalten. Unternehmen
sollen frei wählen können, ob Dienstleistungen grenzüberschreitend unter dem
Herkunftslandprinzip oder im Land durch eine Niederlassung erbracht werden. Damit lässt
sich nahezu alles als grenzüberschreitende Dienstleistung erbringen. Die Verlagerung des
formalen Sitzes würde ausreichen. Man beauftragt einfach eine externe Firma, die man dazu
vielleicht selbst gegründet hat, und schon kann man die am Ort geltenden höheren
Anforderungen umgehen. Betriebe könnten so z.B. ihre Kantine, ihren Wachschutz oder sogar
Teile ihrer Produktion einer externen Firma übertragen. Für diese Betriebsteile würden
dann die Regeln des Landes gelten, in dem diese Unternehmen ihren formalen Sitz haben.
Während die EU-Verfassung kein europaweites Streikrecht beinhaltet, soll es jetzt
möglich werden, die europäischen Gewerkschaften beliebig gegeneinander auszuspielen.
Erbringt ein Unternehmen seine Tätigkeit grenzüberschreitend, ist für die Vertretung
der Beschäftigten die Gewerkschaft des Heimatlandes zuständig. Auch die Regeln zur Wahl
eines Betriebsrats oder deren Rechte richten sich nach dem formalen Herkunftsland, selbst
dann, wenn am Tätigkeitsort nur inländische Beschäftigte arbeiten. Während
Gewerkschaften im Inland ohnmächtig zusehen müssten, was sich vor ihrer Haustür
abspielt, wären sie überfordert, die Beschäftigten an Orten, die tausende von
Kilometern entfernt sind, zu organisieren.
Attac
Gegründet wurde der Verein im April 2004, mit dem Ziel kulturellen Austausch
im allgemeinen zu fördern, und das offene Nachdenken über die eigene Kultur und andere
Kulturen anzuregen.
Wir wollen zur gedanklichen Auseinandersetzung mit weltpolitischen
Problemen und Notwendigkeiten anregen. Das sehen wir als die wichtigste Voraussetzung, um
die notwendigen Veränderungen dann vollziehen zu können, wenn sie auch von der Politik
angegangen werden, oder sogar um die Politik dahingehend zu beeinflussen.
in kleinen Projekten wollen wir aber auch hilfsbedürftigen Menschen direkt
helfen, sie unterstützen, und sie so dazu befähigen, es sich überhaupt leisten zu
können, sich zum Beispiel mit Nachhaltigkeit gedanklich auseinanderzusetzen. Außerdem
sehen wir solche Projekte als Möglichkeit, negative Entwicklungen der Globalisierung ein
Stück weit auszugleichen. Anstatt die Globalisierung ihrer negativen Auswirkungen wegen
wieder umzukehren, möchten wir sie dort, wo es uns möglich ist, harmonisieren, sie
gerechter und sinnvoller gestalten.
Besonderen Wert möchten wir bei dieser Arbeit darauf legen, dass diejenigen,
denen das Projekt zugute kommen soll, mitplanen und eigene Entscheidungen treffen können.
Auf diese Weise möchten wir tunlichst vermeiden, die eigenen Vorstellungen als die einzig
richtigen anzusehen. Ganz wichtig ist es auch, ein gesundes Mittelmaß zwischen
langfristigen und kurzfristigen Interessen zu finden.
Unser erstes
Projekt soll der Bau einer Schule in einem kleinen afghanischen Bergdorf in der Nähe von
Herat sein. Die Menschen dort erzählten uns, dass sie sich eine Schule wünschten, aber
selbst nicht die Möglichkeit haben, eine Schule samt Lehrer zu unterhalten. Der Staat
investiert in diese Regionen nur sehr wenig Geld, ausländische Organisationen findet
man hier auch nicht. Es handelt sich um ein Einzugsgebiet von fünf kleinen Dörfern mit
insgesamt ungefähr 350 Kindern, meist aus halbnomadischen Familien.
Wir werden dort eine Schule mit Tiefbrunnen aufbauen, die Raum für
mindestens fünf Klassen bietet. Um den klimatischen Bedingungen gerecht zu werden, werden
die afghanischen Handwerker sie in der traditionellen Lehmbauweise errichten.
Die Schule wird nach der Fertigstellung an den afghanischen Staat übergeben,
der auch für die laufenden Kosten zuständig ist. In zwei Schichten werden dann sowohl
Jungen als auch Mädchen nach dem afghanischen Lehrplan unterrichtet.
Für die gesamten Baumaterialien und die Bezahlung der Handwerker benötigen
wir einen Betrag von rund 7000 Euro. Wir werden außerdem versuchen Patenschaften zu
übernehmen, um auch den Kindern aus ärmeren Familien den Schulbesuch zu ermöglichen.
Die Kosten dafür belaufen sich ebenfalls auf rund 7000 Euro.
Christoph Laier für den Verein Kulturaustausch", Pfarrhausstraße
15, D-70563 Stuttgart (Konto 700 262 7300, GLS Gemeinschaftsbank, Bankleitzahl 430 609
67)
Die wichtigsten Merkmale einer freien Schule bestehen darin, dass sie von den
Initiatoren, also in der Regel von den Lehrern selbst begründet werden, dass diese
Lehrer Inhalt und Form ihres Unterrichtes und ihrer Pädagogik selbst bestimmen, und dass
weder staatliche Schulbehörden oder wirtschaftliche Gegebenheiten auf die Begründung
einer solchen Schule einen Einfluss haben dürfen. Im Mittelpunkt der freien Schule hat
stets, so führt das Rudolf Steiner aus, das unmittelbare freie, pädagogische Anliegen
der Lehrenden zu stehen. Sie sollen aufgrund ihrer Lebensanschauungen und Erfahrungen
Form und Inhalt der Schule bestimmen und auch, wenn sie es für notwendig halten,
verändern. Es handelt sich also um einen ganz freien Impuls, der von Menschen ausgeht,
die die Absicht haben, anderen Menschen etwas zu vermitteln, wovon sie glauben, dass es
für ihr Leben wichtig sei.
Das zweite wichtige Merkmal der freien Schule besteht darin, dass kein
Mensch, weder Eltern noch Schüler noch andere, durch irgendeine Verordnung gezwungen
werden dürfen, eine solche freie Schule zu besuchen. Hier geht es also um die Freiheit
der Menschen, die sich eine Schule für sich selbst oder für ihre Kinder auswählen
wollen. Sie haben vollkommen selbst darüber zu entscheiden, welche der vorhandenen
freien Schulen sie für sich oder ihre Kinder wählen.
Es geht also um eine echte Freiheit sowohl der Lehrenden als auch der
Lernenden.
Unter den Mitgliedern der in "Modell Wasserburg" zusammenlebenden
Menschen gibt es verschiedene
ehemalige Lehrerinnen und Lehrer. Sie haben die "Freie Schule in der
Gaststätte" allmählich entstehen lassen, weil sie ihre Situation in den
gegenwärtigen Schulverhältnissen als unbefriedigend im Hinblick auf ihre pädagogische
Aufgabe erlebt haben.
Obwohl sich die freie Schule in der Gaststätte in Wasserburg erst seit 1976
entfalten konnte, gehen ihre Vorläufer doch sehr viel weiter zurück. Schon 1954
entfaltete sich allmählich eine freie Schule in den Witthüs-Teestuben auf der
Ferieninsel Sylt. Über die Idee der freien Schule, wie sie in Rudolf Steiners sozialen
Schriften ausgeführt wurde, wurde damals viel diskutiert. Erst im Laufe der
nächsten Jahre wurde bemerkt, dass sich im Rahmen der Witthüs-Teestuben, durch ihre
zahlreichen Freunde und Gäste so etwas wie eine freie Schule entwickelt hatte. Es wurde
über all die Probleme gesprochen, von denen sich die jungen Menschen in den fünfziger,
später sechziger Jahren betroffen fühlten. Die problematische Beziehung zum Elternhaus,
die Frage nach der inneren Existenz in ihrer Beziehung zur beruflichen Existenz, die
Probleme der Beziehungen zwischen Frauen und Männern, die politische Situation und vieles
andere wurden zunächst ganz frei besprochen, bis sich dann auf der Grundlage vorhandener
Interessen regelrechte Arbeitskreise bildeten. Beinahe 20 Jahre lang wurde in dieser Art
in Norddeutschland vor allem auf Sylt, aber auch in Hamburg gearbeitet. Aus der
Beobachtung der praktischen Erfahrungen wurde immer deutlicher, dass sich hier wirklich
so etwas entfaltet hatte, was man als freie Schule bezeichnen konnte. Wer dort etwas aus
seiner Erfahrung und seinem Wissen an andere weiterzugeben hatte, tat es ohne Lehrauftrag
und ohne Schulplan. Fand er Interesse für das, was er an Erfahrung und Wissen zu
vermitteln hatte, so entstand ganz von selbst ein festerer Arbeitszusammenhang. Jeder, der
zuhörte oder sich am Gespräch beteiligte, tat es ebenfalls ganz freiwillig. Er wusste,
dass er keine Scheine erwerben konnte, er wusste auch, dass er jederzeit den
Arbeitszusammenhang wieder verlassen konnte, in den er sich hineingestellt hatte.
Lehrende und Lernende waren wirklich frei und verbanden sich nur solange miteinander, wie
diese Verbindung von beiden Seiten als produktiv erlebt werden konnte.
Als die norddeutsche Gruppe der
alten Witthüsler 1970 in die Nähe des Bodensees übersiedelte, um dort mit anderen
gemeinsam das Internationale Kulturzentrum Achberg" zu begründen, da ging es
eigentlich nur um die Verpflanzung der vorhandenen Erfahrungen in einen anderen Raum, von
Norden nach Süden.
1976 konnte mit Hilfe alter Freundinnen und Freunde, die zum Teil noch die
Sylter Zeit miterlebt hatten, und mit Hilfe neuer Befürworter des gemeinsamen Anliegens
ein geeigneter Ort hier in Wasserburg für das "Modell Wasserburg" gefunden
werden.
Freies Lernen und Lehren
Die geistige
Grundlage unserer Schule beruht auf der Erfahrung von Menschen, die in den
philosophischen, religiösen und politischen Gedanken Rudolf Steiners etwas gefunden
haben, das sie in der Praxis ihres Lebens anwenden möchten. Dabei handelt es sich nur zum
geringsten Teil um eine gewissermaßen theoretische Erarbeitung des
geisteswissenschaftlich-anthro-posophischen Gedankengutes. Es muss sogar deutlich
ausgesprochen werden, um Missverständnisse zu vermeiden: In unserer freien Schule in der
Gaststätte stehen die Lebenserfahrungen, die wir miteinander in unserem persönlichen
Zusammenleben und während der Arbeit machen, im Vordergrund. In diese Erfahrungen und
in das Bemühen, sie zu verarbeiten, fließen die Erkenntnisse der Menschen ein, die sich
in ihrer Art, eigenwillig, zum Teil seit sehr langen Jahren mit der Anthroposophie
befassen. Um ganz deutlich zu sagen: Es stehen uns im Zweifelsfall immer diejenigen
Menschen näher, mit denen wir in der Praxis unseres Zusammenlebens und
Zusammenarbeitens zu produktiven Ergebnissen kommen, als diejenigen, die
schwerpunktmäßig anthroposophisches Gedankengut vertreten, ohne jedoch zu der Art, wie
wir miteinander leben und arbeiten, eine produktive Beziehung finden können. Im
Zusammenleben, das erfahren wir täglich, geht es einerseits darum, allmählich auf vielen
Gebieten einen eigenen klaren Standpunkt zu finden, und andererseits darum, den unter
Umständen sehr anderen Lebensweg einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters zu achten
und zu verstehen. Es geht auch darum, und zwar mit allergrößter Dringlichkeit, den
anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht nur gedankliches Verstehen ihrer
Lebenslage, sondern vor allem auch Anteilnahme und warmherziges Mitgefühl entgegenbringen
zu können. Das fällt uns allen, jedem einzelnen, von Fall zu Fall sehr schwer.
Aber das ist es, was wir lernen möchten. Dabei, so haben wir es erfahren, kann die
Geisteswissenschaft Rudolf Steiners eine große Hilfe sein. Wenn einer aus seiner
anthroposophischen Arbeit Kraft und Hilfe für diese Aufgabe beziehen kann, so ist es
gut. Wenn andere, die ebenfalls sehr eng zu uns gehören, aus anderen Quellen diese Hilfe
beziehen, so ist es auch gut. Die Qualität unseres Zusammenlebens richtet sich nach der
Tiefe und Breite des Verständnisses und der Liebe, die wir füreinander aufbringen
können. Danach fragen wir, denn davon leben wir. Die Frage nach der Weltanschauung, die
ein Mensch hat oder vertritt, der zu uns gehört, steht durchaus an zweiter Stelle.
Wenn wir
trotzdem ehrlicherweise sagen müssen, dass die Inhalte der Geisteswissenschaft Rudolf
Steiners für unsere Gemeinschaft eine sehr wichtige Rolle spielen, so liegt das ganz
einfach daran, dass die Menschen, von denen der Impuls für die freie Schule in der
Gaststätte ausgeht, eine starke Beziehung zur Anthroposophie haben.
Nicht
Schulstunden, sondern Gespräche
Das Wichtigste, was sich eigentlich unaufhörlich zwischen uns abspielt,
sind unsere gemeinsamen Gespräche. Dabei wird niemals von vornherein ein Thema
festgesetzt. Es geht um die Fragen, die jeden Einzelnen bewegen und von denen wir erfahren
haben, dass auch viele Fragen und Antworten enthalten sind, die für die anderen
Gesprächsteilnehmer gelten. Sehr oft läuft die Sache so ab, dass wir miteinander
beim Frühstück sitzen. Irgendeiner erzählt zum Beispiel einen Traum, den er gehabt hat.
Plötzlich steht die Frage, was eigentlich Träume bedeuten können im Mittelpunkt. Andere
geben ebenfalls Beiträge von Träumen, die sie besonders beeindruckt haben. Wir
erzählen uns unsere Träume. Plötzlich fängt einer an, zu dozieren, was Traumanalysen
sind und was sie zu bedeuten haben. Wenn er interessante Sachen sagt, wird zugehört. Wenn
er lehrerhaft auftritt, wird er darauf hingewiesen und nicht selten erhebt sich in diesem
Zusammenhang ein allgemeines fröhliches Gelächter. Es kommt bei solchen Gesprächen,
wie zum Beispiel über den Traum, nie zu einer irgendwie gearteten Schulmeinung zum
Thema Traum. Die Sache bleibt im Gespräch und wird bei anderer Gelegenheit wieder
aufgenommen. Was die einzelnen durch solche Gespräche lernen, merken sie erst nach
ziemlich langer Zeit.
Oder wir sitzen wiederum nach einer Mahlzeit zusammen und sprechen über
bestimmte Vorgänge während der Arbeit. Irgendein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin
hatte den Eindruck, dass zum Beispiel ein Gast nicht aufmerksam beachtet worden ist. Er
stellt das ins Gespräch. Plötzlich steht die Frage, warum machen wir eigentlich eine
Gaststätte, was wollen wir hier, eine ganze zeitlang im Mittelpunkt unseres
Gespräches. Es gehört zum Inhalt unserer freien Schule in der Gaststätte, dass wir
eine sehr deutliche Zielvorstellung von dem haben, warum wir eine Gaststätte machen. Es
geht uns nämlich darum, einen Raum der Gemütlichkeit und menschlichen Wärme für Gäste
der verschiedensten Herkunft zu schaffen. Wir möchten jeden Gast so bewirten, dass er
sich von uns als Mensch angesprochen fühlt. Das heißt wir lehnen es zum Beispiel ab,
eine bestimmte Gästegruppe zu bevorzugen, Wir möchten, dass die Menschen, die aus
einem sogenannten normalen bürgerlichen Milieu kommen, sich bei uns genauso wohl und
gemütlich fühlen, wie andere, die zum Beispiel glauben könnten, dass sie deshalb von
uns bevorzugt behandelt werden, weil sie selbst Mitglieder einer Arbeits- und
Wohngemeinschaft sind wie wir auch. Über solche Dinge sprechen wir sehr oft, wenn wir
zusammensitzen. Wir machen uns bewusst, dass die geschilderte Absicht, die wir
verwirklichen wollen, ganz bestimmte Konsequenzen für unsere Verhalten gegenüber
unseren Gästen hat. Wir müssen zum Beispiel Jugendlichen, die zu unserer Arbeit eine
Beziehung haben, klarmachen, dass sie ihr Verhalten in der Gaststätte darauf abstimmen
müssen, dass sich auch andere Gäste, die ihnen persönlich nicht so sehr liegen, bei
uns wohlfühlen.
Die meisten von uns haben ganz bestimmte politische Anschauungen, die sich in
der Richtung einer wirklichen geistigen Freiheit, eines echt demokratischen Rechtsstaates
und einer assoziativen Wirtschaft im Sinne der Dreigliederungsidee von Rudolf Steiner
bewegen. Es kommt häufig vor, dass eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter von uns
beobachtet, wie ein anderer Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin, die gerade in der
Gaststätte die Gäste bewirten, sich in ein Überzeugungsgespräch mit einem Gast
verwickelt. Ein derartiger Vorfall wird ebenfalls nach dem gemeinsamen Essen, vielleicht
am
Abend, ins Gespräch gestellt. Wieder tritt die Frage in den Mittelpunkt,
was wir eigentlich mit der Gaststätte wollen. Dabei ist es eindeutig unser Anliegen,
jeden Menschen, und natürlich auch jeden Gast unserer Gaststätte, in seiner
persönlichen Anschauung und
Überzeugung als Mensch zu achten. Wir sind uns darüber klar, dass die
Offenheit unserer Gaststätte, die wir ehrlich wollen, davon abhängt, dass wir selbst
es lernen, offen für jede Anschauung eines anderen Menschen zu sein. Das ist sehr oft
sehr schwer zu verwirklichen, weil natürlich jeder Mensch, der gerade von einer ganz
bestimmten Idee sehr durchdrungen ist, die Tendenz hat, sie anderen zu vermitteln,
wohlmöglich sogar aufdrängen. Wir versuchen uns dann immer wieder auf die Formen des
Fehlverhaltens, die der eine oder andere an dieser oder jener Stelle praktiziert,
hinzuweisen. Für uns soll der Mensch in Mittelpunkt stehen, nicht die Weltanschauung.
Auch unsere eigene Weltanschauung darf, soweit wir sie haben, kein bedrückendes
Überzeugungsinstrument für andere werden.
Die Frage der menschlichen Gleichberechtigung und der
Mitbestimmung
Sie steht immer wieder im Mittelpunkt unserer Gespräche, weil sie
durch die verschiedensten Situationen herausgefordert und zum Problem wird. Wir haben
keinen offiziellen Chef und keine offizielle Chefin. Das würde unserem Anliegen nicht
entsprechen. Was zum Beispiel in der Gaststätte geschehen soll, wird gemeinsam
besprochen. In der Praxis ergänzen sich die Eigenschaften und Fähigkeiten der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder sie prallen auch aufeinander. Daraus ergeben sich
Konfliktsituationen. So wurde zum Beispiel gemeinsam beschlossen, daß die Stammgruppe der
Arbeits-und Wohngemeinschaft grundsätzlich ohne Besucher von außen wenigstens eine
Mahlzeit, das Frühstück, gemeinsam einnehmen wollten. Die Begründung dafür erschien
allen einleuchtend: Wir hatten auf diese Weise wenigstens einmal am Tage die Zeit und
die Gelegenheit auch unsere ganz persönlichen Angelegenheiten miteinander zu besprechen,
also die Dinge, die sich aus dem langen Zusammenleben und Zusammenarbeiten zwischen
einzelnen Menschen der Gruppe oder auch zwischen einem und der Gruppe ergeben haben.
Unser Beschluss, der uns allen so einleuchtend und richtig vorkam, ging an der Praxis
vorbei. Das zeigte sich, als einige Helfer des Vorjahres zu Besuch kamen, die länger mit
uns zusammengearbeitet hatten und die mit Selbstverständlichkeit ihr altes
Gewohnheitsrecht, mit uns gemeinsam zu essen, in Anspruch nahmen. Für diejenigen, die
erst ein knappes Jahr in der Gruppe waren, waren das "Fremde". Den alten
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren sie vertraut, und deshalb erschien es auch ganz
folgerichtig, dass sie sich zu uns setzten. Was die einen, die älteren Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter freute, die Begegnung mit den Helfern des Vorjahres, wirkte auf die
neuen befremdend. Das wurde besonders dadurch spürbar, dass die neue Gruppe, die erst
ein knappes Jahr miteinander lebte und arbeitete, einen besonders intensiven Zusammenhalt
sowohl in der Arbeit als auch in der persönlichen Verbindung gefunden hatte.
Es stellte sich nun ziemlich dramatisch die Frage nach der
Gleichberechtigung. Sollten nur die alten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Recht
haben, ihre Freunde und Helfer des Vorjahres an den Mahlzeiten teilnehmen zu lassen -
oder sollte dies gleiche Recht auch für die neuen gelten, die erst ein knappes Jahr in
der Gruppe waren? Darüber wurde dann nach einem Essen ausführlich gesprochen. Wir
kamen gemeinsam zu dem Ergebnis, dass der schöne Beschluss, die Gruppe wollte wenigstens
an einer Mahlzeit ganz unter sich sein, nicht aufrechtzuerhalten war. Wir beschlossen
nun, dass jeder der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Freundinnen und Freunde, die zu
Besuch kamen, mit zu den Mahlzeiten bringen könne, wenn er das wünschte. Wir sprachen
darüber, ob es möglich sei, unsere ganz persönlichen Erfahrungen und Probleme innerhalb
der Gruppe, die seit einem knappen Jahr zusammenlebt, auch dann auszusprechen, wenn
plötzlich Leute mit am Tisch saßen, die zum Beispiel mit einem Mitglied der Gruppe
vertraut und befreundet sind, aber den anderen fremd. Wir waren uns darüber klar, dass
damit ein ziemlich schwieriges Problem auftrat. Aber wir beschlossen doch, und zwar
gemeinsam und übereinstimmend, den Versuch zu unternehmen. Wir wollen die Ergebnisse
einer Entscheidung beobachten und bereit dafür sein, aufgrund neuer Erfahrungen neue
Einsichten zu treffen.
Das Problem der Autorität
Stellt sich im Laufe der Prozesse, die wir miteinander durchmachen,
immer wieder neu. Es hängt unmittelbar mit den Eigenschaften der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter zusammen und nicht mit bestimmten Autoritätspositionen, die von vornherein
festgelegt sind. Das wollen wir ja vermeiden. Impulsiv Tatkräftige neigen dazu, eine ganz
bestimmte Vorstellung, die sie haben, unmittelbar in die Praxis umzusetzen, ohne mit den
anderen darüber zu sprechen. Dabei stellt sich heraus, dass ihre Tatkraft für die Sache
sehr wichtig ist, niemals grundsätzlich entmutigt werden darf. Die andere, soziale Seite
besteht darin, dass sie ihre Vorstellung zunächst einmal mit den anderen besprechen
sollen. Ein Beispiel: Einige von uns beschlossen, die Hotelzimmer, die schon lange keinen
Anstrich mehr erhalten hatten, neu auszumalen. Diese Sache wurde noch gemeinsam
besprochen und allgemein begrüßt. Plötzlich war das erste Hotelzimmer schon fertig
ausgemalt. Die Leute, die es gemacht haben, waren verständlicherweise darüber sehr
froh. Die anderen waren betroffen, weil über die Abstimmung der Farben im Zimmer nicht
gemeinsam gesprochen worden war und weil einigen die nun an Wänden und Fensterkreuzen
befindliche Farbe durchaus nicht gefiel.
Der Vorfall wurde zum Anlass genommen, um noch einmal grundsätzlich darüber
zu sprechen, wie wir zu den Sachen stehen, die an dem Haus vorgenommen werden, für das
wir uns alle, jedenfalls theoretisch, verantwortlich fühlen. Dabei stellte sich heraus,
dass einige Gruppenmitglieder zur Frage der Gestaltung der Räume überhaupt keine
Meinung hatten. Es war ihnen ziemlich egal, in welchen Farben die Zimmer gestaltet werden
sollten.
Das wurde erst einmal ziemlich milde kritisiert. Es wurde die Frage
erörtert, wie wir es schaffen, dass das Haus wirklich unsere gemeinsame Angelegenheit
werden sollte, wenn sich Leute gar nicht die Mühe machen, darüber nachzudenken, welches
die schönsten Farben für einen bestimmten Raum wären. Einige andere wiederum hatten
sehr deutliche, aber stark voneinander abweichende Vorstellungen über die Farbgestaltung
der Räume. Zwischen ihnen ergaben sich dann sehr angeregte Gespräche, die schließlich
auf gemeinsam bejahte Kompromisse hinausliefen. In einem Fall wurde schließlich eine
Farbe gefunden, auf die sich alle in der Frage engagierten Mitarbeiter einigen konnten.
In einem anderen Fall wurde entschieden, dass die einen einen Raum ganz nach ihrer
Vorstellung farblich gestalten sollten, während die anderen das gleiche mit einem anderen
Raum tun sollten.
Meinungslosigkeit und Übereinstimmung
In zahlreichen Fällen der äußeren Gestaltung des Hauses und der
Räume und auch der inneren Gestaltung des Zusammenlebens zeigt es sich, dass die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zunächst gar keine Meinung haben. Manchmal deshalb, weil
sie unsicher sind und sich nicht trauen, ihre eigene Meinung ins Spiel zu bringen, weil
sie ihnen selbst noch zu unsicher ist. In anderen Fällen deshalb, weil sie ganz ehrlich
aussprechen, dass die Sache ihnen zunächst gleichgültig wäre. Sie würden sich dem
anschließen, was die anderen bestimmen.
In diesem Tatbestand lebt eine starke politische Aussage. Sie besagt, dass
es in der kleinen Gruppe sehr ähnlich ist wie in der großen Gesellschaft. Die Menschen
sind einfach nicht so erzogen und gebildet worden, dass sie zu den Lebensfragen, vor die
sie gestellt werden, eine Meinung haben. Sie sind unsicher und schließen sich deshalb der
vorhandenen Meinung an.
Über diese Situation sprechen wir immer wieder und machen uns bewusst,
dass es der gleiche Zustand ist, den die Leute zum Beispiel dann erleben, wenn sie eine
Partei wählen sollen. Auch hier sind sie unsicher und schließen sich irgendeiner
Meinung, die sie einmal gehört haben, an, oder sie sind einfach gleichgültig und nehmen
Zustände hin, die von anderen gemacht worden sind. In der überschaubaren Gruppe kann
man solche Prozesse bewusst machen und allmählich Unsicherheiten oder
Gleichgültigkeiten abbauen. Wir sehen darin ein wichtiges Anliegen unserer Arbeit in
Modell Wasserburg.
Wir erleben, dass Menschen, die im Zusammenleben mit anderen allmählich zu
Standpunkten kommen, Unentschiedenheiten und Meinungslosigkeit überwinden, immer mehr
Freude an ihrem persönlichen Leben und am Zusammenleben mit anderen Menschen haben. Wir
hoffen, dass derartige Prozesse sich auf die Dauer auch im großen Rahmen der
Gesellschaft produktiv bemerkbar machen.
Zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die in Fragen der äußeren
und inneren Gestaltung des Zusammenlebens eigene Standpunkte haben und sie in die Gruppe
einbringen, ergeben sich nach unserer Erfahrung im Laufe des Zusammenlebens immer mehr
Übereinstimmungen. Wir erleben immer wieder, dass sich in der Gruppe verschiedenartige
und doch recht klar geäußerte Standpunkte von Menschen ergeben. Da gibt es zunächst
unter Umständen sehr heftige Auseinandersetzungen. Jeder möchte seinen Standpunkt
durchsetzen, weil er von dessen Richtigkeit überzeugt ist. Daneben tritt aber auch noch
ein soziales Element auf. Das zeigt sich darin, dass es letztlich keinem Freude bereitet,
etwas durchzusetzen, was von allen anderen abgelehnt wird. Daraus entsteht die
Bereitschaft nach unserer Erfahrung, die andersgearteten Standpunkte der anderen noch
einmal zu überprüfen und einen für einen selbst tragbaren Kompromiss zu suchen. So
jedenfalls haben wir es bisher immer wieder erlebt. Das gilt aber natürlich nur für
alle Fragen, die das Gemeinsame unseres Anliegens betreffen.
Die freiwillig anerkannte und die emotionale Autorität
Über die Frage der Autorität sprechen wir immer wieder dann, wenn wir diese
Autorität in einer von der Gruppe anerkannten oder in einer als unangenehmen Art
begegnen. Es wird also keine Theorie über Autoritätsfragen entwickelt, es wird über die
Autoritätsfrage gesprochen, und zwar sehr oft, wenn das aus der Praxis unseres
Zusammenlebens notwendig wird. So haben wir erfahren, dass die Autorität einer
Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters in ganz bestimmten Fragen mit voller
Selbstverständlichkeit in der Gruppe anerkannt wird, weil sich in der Praxis
herausstellt, dass die oder der Betreffende auf diesem Gebiet einfach eine größere
Fähigkeit besitzt. So stellt sich zum Beispiel heraus, dass eine Mitarbeiterin immer
wieder die besten Einfälle hat, wenn es darum geht, Gaststätte, Haus und Hotelzimmer
durch kleine, schöne Dinge anziehender und reizvoller für die Gaststätte zu machen.
Da steht plötzlich wieder eine schöne Vase, da hängt ein hübsches Plakat, da
wird ein Flur durch einen mühsam wieder abgelaugten Schrank und durch Bilder schöner.
Auf die Dauer weiß jeder, dass solche Einfälle und auch ihre Ausführung in der Regel
immer wieder von der gleichen Mitarbeiterin kommen. Da begreift jeder in eingestandener
oder uneingestandener Weise allmählich, hier gibt es nichts zu kritisieren, da kann man
nur lernen und versuchen, auf seine Art eine neue Fähigkeit zu erwerben.
Die gleiche Person, die auf einem Gebiet
eine unbestrittene Autorität hat, kann auf anderen Gebieten sehr angegriffen werden,
weil da ihre Autorität keineswegs unbestritten ist und auf freiwilliger Anerkennung
beruht. Als Beispiel aus unserer Erfahrung sei hier genannt, dass der gleiche Mensch, der
unbestrittene Fähigkeiten auf gewissen Gebieten besitzt, zum Beispiel durch eine sehr
heftige und laute Art in der Auseinandersetzung während der Arbeit oder auch in der
Auseinandersetzung während eines gemeinsamen Gespräches, als sehr schwierig erlebt wird.
Er befindet sich auf diesen Gebieten sehr häufig in ruhiger oder auch in heftiger Weise
der Kritik durch andere Mitglieder der Gruppe ausgesetzt. Für ihn selbst wird dadurch
klar, dass er auf bestimmten Gebieten des menschlichen Verhaltens noch sehr an sich
arbeiten muss, um hier positiv wirken zu können. Ganz besonders über die Problematik des
Widerspruches zwischen erlebter und anerkannter Fähigkeit eines Mitarbeiters oder einer
Mitarbeiterin und ebenfalls erlebter und anerkannter Unfähigkeit der gleichen
Mitarbeiterin oder des gleichen Mitarbeiters sind wir in einem permanenten Gespräch.
Einseitige Autoritätsansprüche werden auf diese Weise allmählich abgebaut, und zwar
genau dort, wo sie sich als unberechtigt und für die Sache schädlich herausgestellt
haben. Wir sprechen dann auch darüber, wie notwendig es in solchen Fällen ist, das
innere und äußere Gleichgewicht zu wahren. Wir verstehen darunter, dass wir uns
bemühen, gerade wenn wir die Unfähigkeit einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters
unter einem ganz bestimmten Punkt ins Gespräch stellen, innerlich nicht aus dem
Bewusstsein zu verlieren, dass die gleiche Person auch positive Fähigkeiten hat, die
sie fortwährend in die sachlichen und menschlichen Zusammenhänge einbringt und die
tragend wirken.
Wir erfahren in unserem Zusammenleben auch sehr gründlich die Situation,
dass eine bestimmte Mitarbeiterin oder ein bestimmter Mitarbeiter laufend dazu neigt,
seine Fähigkeiten zu unterschätzen und sich insgesamt als unfähig zu empfinden.
Manchmal hat es den Anschein, als ob die Zahl der Menschen, die ihre Fähigkeiten
unterschätzen, im ganzen gesehen wesentlich größer sei, als die der Menschen, die sich
überschätzen. In der Zusammenarbeit wirkt sich das eine nach unserer Erfahrung genauso
schwierig aus wie das andere. Da sagt zum Beispiel eine Mitarbeiterin dauernd, dass sie
irgendeine Aufgabe, die man ihr anbietet, auf keinen Fall bewältigen werde. Im Laufe der
Zeit wissen alle, dass die betreffende Person bestimmte Arbeiten sogar sehr gut erledigt.
Es zeigt sich nun, dass es außerordentlich schwierig ist, einem solchen Menschen
das Bewusstsein einer wirklich in ihm vorhandenen Fähigkeit vor Augen zu führen.
Eine andere Erfahrung, die ebenfalls in vielen Gesprächen immer wieder
bewusstgemacht und versuchsweise verarbeitet wird, ist die, dass bestimmte Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen, die "grundsätzlich" davon überzeugt sind, dass sie sehr
viele Schwächen und Fehler haben, genau in dem Augenblick, wo sie einer Schwäche oder
einem Fehler konkret verfallen, dies mit großer Überzeugungskraft bestreiten. Auch darin
besteht eine große Schwierigkeit für das Zusammenleben in der Gruppe.
Es kann dann zeitweise dazu kommen, dass keiner in der Gruppe mehr wagt, der
Betreffenden oder dem Betreffenden bewusstzumachen, wenn sie oder er etwas falsch macht
oder sich menschlich schwierig verhält. Die anderen haben dann einfach Angst davor,
dass die Sache wieder heftig abgestritten wird. Im Laufe des Zusammenlebens wird diese
Situation aber doch immer wieder aufgegriffen. Es stellt sich überhaupt heraus, dass
sich keiner auf die Dauer an abstrakten Aussagen festhalten kann. Es nützt nichts, wenn
einer grundsätzlich behauptet, er habe Schwächen, aber im konkreten Fall nicht bereit
ist, auf sie einzugehen. Auch wenn jemand in abstrakter Weise dauernd behauptet, er könne
diese oder jene Aufgabe nicht bewältigen, so wird ihm nicht erspart, einzusehen, dass er
bestimmte Aufgaben bereits sehr gut bewältigt hat.
Das Problem
der persönlichen Beziehungen zwischen uns
Unser Zusammenleben und Zusammenarbeiten wird einerseits dadurch
getragen, dass wir gemeinsame Ziele sowohl im persönlichen als auch im gesellschaftlichen
Bereich anstreben. Andererseits spielen die ganz persönlichen Beziehungen zwischen den
einzelnen und zwischen einzelnen und der Gruppe eine entscheidende Rolle. Es gibt kaum
einen Tag, an dem wir nicht durch diese oder jene Erfahrung veranlasst werden, über
unsere persönlichen Beziehungen zueinander zu sprechen. Wir sind uns ohne festgesetzte
Vereinbarung darüber einig, dass in der Gestaltung der äußeren Form einer Beziehung
jedes Mitglied unserer Arbeits- und Wohngemeinschaft absolute Freiheit hat. Mit anderen
Worten: Menschen, die aus für sie gültigen Gründen verheiratet sind, sind uns genauso
lieb wie solche, die ebenfalls aus für sie gültigen Gründen unverheiratet in
partnerschaftlichen Beziehungen leben. Wir sprechen gemeinsam über das, was sich in den
Beziehungen zwischen zwei Menschen abspielt, und auch darüber, wie das, was in
Zweierbeziehungen läuft, sich auf das Zusammenleben der Gruppe auswirkt.
Man kann vielleicht sagen: Wer in unserer Gruppe lebt, tut es deshalb, weil
er an seiner persönlichen Entfaltung und Entwicklung arbeitet, und weil er an der
Entfaltung und Entwicklung der anderen wirklich Anteil nimmt. Es kommt natürlich immer
wieder vor, dass Menschen in unsere Gruppe kommen, die sich zunächst nur für ihr eigenes
Leben und ihre eigene Entwicklung interessieren. Wir verstehen das und sehen darin eine
direkte Auswirkung der gesellschaftlichen Situation, in der wir leben. Diese ist nach
unserer Erfahrung im ganzen und im einzelnen eine sehr starke Herausforderung dazu, dass
der einzelne Mensch immer mehr nur an sich denkt und auch den anderen vorwiegend im
Hinblick darauf erlebt, wie er sich durch ihn weiterentwickeln kann.
Im Mittelpunkt unserer ständigen Gespräche über unsere persönlichen
Beziehungen zueinander steht die Herausforderung dazu, mehr und mehr als Einzelner oder
Einzelne an dem Leben der anderen Anteil zu nehmen und an ihrer Entwicklung interessiert
zu sein. Es gibt oft Gespräche zwischen uns, in denen einer einen anderen darauf
aufmerksam macht, dass er der Darstellung, die von einem anderen Gruppenmitglied gegeben
wird und unter Umständen sehr intime Punkte berührt, ohne Aufmerksamkeit und Interesse
folgt. Wir haben erfahren, dass es offensichtlich schwer ist zu lernen, sich für den
anderen Menschen zu interessieren. Wir erleben aber auch ständig, dass die
Lebensintensität eines Menschen in unserer Gruppe sich dadurch verstärkt und
erweitert, dass er lernt, am Leben der anderen wirklich Anteil zu nehmen.
Die Anteilnahme und das Interesse, das wir uns gegenseitig entgegenbringen,
vollzieht sich sowohl in positiven Beiträgen als auch in kritischen. Wir sprechen zum
Beispiel darüber, wenn wir glauben, dass ein Gruppenmitglied sich sehr für diesen oder
jenen Menschen in der Gruppe wirklich interessiert, und wir gleichzeitig bemerken, dass
derjenige, dem diese Anteilnahme entgegen gebracht wird, davon nichts bemerkt. Wir
sprechen auch darüber, wenn wir den Eindruck haben, dass das Interesse des einen an dem
anderen ein vorwiegend egoistisches ist - also nicht wirklich dem Leben des anderen gilt.
Es geht dann
darum aus dem egozentrischen Interesse am anderen allmählich ein wirkliches zu machen.
Das sieht zum Beispiel so aus, dass derjenige, der sich angeblich sehr für den anderen
interessiert, darauf aufmerksam gemacht wird, dass er eigentlich kaum etwas von dem
Menschen weiß. Wir lernen auf diese Weise einmal bewusst zu erkennen, wo ein Interesse am
anderen vorwiegend egoistisch ist, und wie daraus auf die Dauer ein wirkliches Interesse
an ihm werden soll.
Mehr oder weniger starke Konflikte zwischen Menschen der Gruppe, die eine
besonders nahe persönliche Beziehung zueinander haben, sind selbstverständlich auch bei
uns an der Tagesordnung. Wir haben erfahren, dass es in solchen Konflikten zwischen zwei
Menschen möglich ist, sowohl die Situation des einen als auch die des anderen erst einmal
zu verstehen. Wenn uns das gelingt, und es gelingt natürlich in einer einigermaßen
vollkommenen Weise äußerst selten, dann zeigt sich, dass die Gruppe den sich im Konflikt
befindenden Menschen erst einmal das vermitteln kann, was sie beide nicht mehr konnten:
die Sicht auf den anderen und das Verständnis für ihn.
Aus dem Verständnis gegenseitiger Art ergeben sich sehr oft die Wege, welche
die Betreffenden versuchen können, um wieder in ein produktives und liebevolles
Verhältnis zueinander zu kommen. Wir haben erlebt, dass die Gruppe in solchen Fällen
eine außerordentlich produktive Rolle spielen kann für die Beziehung innerhalb einer
Partnerschaft.
Auch über unsere intimen Beziehungen
zueinander sprechen wir mit wachsender Offenheit. Dabei wird berücksichtigt, dass im
allgemeinen der Mensch, der neu in unsere Gruppe kommt, nicht daran gewöhnt ist, über
seine persönlichen Dinge mit der Gruppe zu sprechen. Wenn er aber erlebt, dass andere
Gruppenmitglieder, die schon länger zusammenleben, über ihre persönliche Beziehung
sehr offen miteinander sprechen, so ergibt sich häufig, dass auch er sich allmählich
ermutigt fühlt, dies zu tun. Es ist uns aus der Erfahrung unseres Zusammenlebens sehr
bewusst, von welch immenser Bedeutung die intime Beziehung innerhalb einer Partnerschaft
ist. Es ist uns deshalb ein ganz besonderes Anliegen, über Prozesse auch der intimen
Beziehungen zwischen Menschen, sowohl möglichst behutsam, je nach der Lage der
Betreffenden, als auch in wachsendem Maße deutlich zu sprechen. Wir sind uns darüber
klar, dass ein derartiges Verhalten innerhalb einer Gruppe heute noch ziemlich
außergewöhnlich ist. Wegen der Bedeutung dieser Dinge, auch wegen ihrer Tragik, die wir
immer wieder erleben, gehört es zu unserem Anliegen, das Thema der intimen Beziehungen
zwischen den Menschen in das Leben der Gruppe aufzunehmen.
Wir verstehen durchaus, dass Menschen unter Umständen eine ganze zeitlang
stark konzentriert auf eine Zweierbeziehung leben müssen. Aber wir sind uns dessen
bewusst, dass ihr Leben in der Gruppe auch unter solchen Umständen noch von allen anderen
als etwas Produktives und Förderliches für unser Zusammenleben erlebt werden muss. Es
lassen sich auch hier keine festen Maßstäbe nennen. Die Erfahrung und der Prozess
entscheiden.
Peter Schilinski über
eine besonders intensive Zeit im Modell Wasserburg
Die Einsicht, dass der Prozess der
individuellen Menschwerdung in Stufen verläuft, auf denen das Verhältnis von Kind und
Welt in immer neuer Art sich gestaltet, ist für die Konzeption einer Erziehungskunst
von grundlegender Bedeutung. Eine ähnliche Bedeutung hat die Erkenntnis einer im Verlauf
der Menschwerdung erfolgenden inneren Differenzierungen und die Einsicht, dass auch diese
Prozesse nur so verlaufen, dass es zu einer vollen Entfaltung der Person kommt, wenn sie
durch geeignete Lernangebote herausgefordert und ermöglicht werden.
Die Selbständigkeit der menschlichen Person ist darin begründet, dass sie im
Spannungsfeld zahlreicher innerer Polaritäten steht. Deren bedeutsamste sind die
Polarität von Erkennen und Handeln, von individueller und sozialer Identifikation, von
Bewahren und Verändern. Auch dieses Spannungsfeld personaler Entfaltung, das aus
Prozessen seelischer Differenzierungen resultiert, muss in den Entwicklungsprozessen der
Kindheit und Jugend erst aufgebaut werden.
Dass diese Differenzierung eingeleitet und ermöglicht wird, ist eine Frage der
Spezialität und der Allseitigkeit des Lernangebots. Speziell ist jedes Lernangebot,
denn es ist immer eine Auswahl. Pädagogisch berechtigt es seine Spezialität, wenn es
mit der besonderen Lerndisposition einer Entwicklungsstufe korrespondiert und wenn es in
besonderer Weise geeignet ist, den Entwicklungsschritt zu ermöglichen, der dieser
Lerndisposition zugrunde liegt. Im Zuge der seelischen Differenzierung fächern sich diese
Lerndispositionen aber auf, und es ist jetzt eine Frage der Allseitigkeit des
Lernangebots, dass dies auf der ganzen Breite der sich differenzierenden Entwicklung
erfolgt. Die besondere Konzeption der Waldorfschule, insbesondere der konsequente Aufbau
eines praktischen Lehrgangs, versucht diese Aufgabe zu lösen. Welche Anschauungen und
methodische Grundkonzeptionen aus einer anthroposophischen Menschenkunde für eine solche
Konzeption angezeigt sind, soll im weiteren skizzenhaft dargestellt werden.
In den ersten Lebensjahren sind körperliche Betätigung und die Vorgänge des
erlebenden Bewusstseins noch untrennbar verbunden. Darum lernt auf dieser
Entwicklungsstufe das Kind über seine Sinne ausschließlich durch Nachahmung; was es in
seiner Umwelt erlebt, wird unmittelbar im körperlichen Vollzug nachgeahmt. Umgekehrt
kann es nur so viel von der Welt erleben, als es tätig ergreift oder schmeckt,
betastet, bewegt oder umläuft. Was es empfindet, ist ihm nur dann bewusst, wenn es sich
körperlich äußert.
Stellen wir die seelische Konfiguration eines Erwachsenen daneben,so wird
sofort deutlich, was sich im kindlichen Entwicklungsprozess differenzierend verändern
muss. Denn beim Erwachsenen haben sich die Bewußtseinsprozesse verinnerlicht und dabei
weitgehend von den Prozessen körperlicher Betätigungen getrennt. Die Stufe höchster
Bewusstheit beim reinen begrifflichen Denken ist von allem äußeren, körperlichen
Tun unabhängig.
Dieses allmähliche Herauslösen des denkenden Bewusstseins aus dem ursprünglichen
Eingebundensein in die Körperprozesse vollzieht sich als die kognitive Bildung der
Heranwachsenden. Eine pädagogische Anthropologie muss sich die Frage stellen, welche
Ebenen dieses Herauslösen durchläuft, in welchen besonderen Bewusstseinsformen (Bild,
Vorstellung, Begriff) sich die jeweils erreichten Entwicklungsschritte äußern und wie
diese mit der Gesamtentwicklung des Kindes korrespondieren.
Nun zeigt die anthroposophische Menschenkunde, dass der im denkenden Bewusstsein
waltende Wille mit den Lebensprozessen des Körpers und seiner äußeren Betätigung
korrespondiert. "Der Mensch denkt in denselben Kräften, durch die er wächst und
lebt. Nur müssen diese Kräfte, damit der Mensch zum Denker wird, ersterben."
(Rudolf Steiner: Anthroposophische Leitsätze)
In diesem Zusammenhang ist ein "Transfer-Effekt" begründet: die Beobachtung,
dass die gezielte Schulung im motorischen Bereich Rückwirkungen auf die kognitive
Lernentwicklung hat. Das muss bei der Konzeption eines kognitiven Bildungsganges
beachtet werden. Denn es genügt nicht, die Entwicklung des Bewusstseins dadurch zu
fördern, dass man es direkt mit entsprechenden der jeweiligen Bewusstseinsstufe gemäßen
Inhalten anspricht; es muss vielmehr zuerst in Körperprozessen wirksame Wille auf eine
höhere Entwicklungsstufe geführt werden, bevor der entsprechende Schritt in der
kognitiven Entwicklung vollzogen werden kann. Was schrittweise an Geschicklichkeit, an
Reaktion, an Arbeits-Konzentration erworben wird, ist nicht nur Ausdruck einer
gezielten motorischen Entwicklung, sondern damit zugleich Grundlage einer wirklichen
Bewusstseinsentwicklung (siehe zum Beispiel Stricken im 1. Schuljahr, Schnitzen und
plastizieren in der 5. Klasse).
Nun kann es aber nicht nur die Aufgabe sein, das Kind im Heranwachsenden schrittweise in
einem erkennenden Bewusstsein gegenüber dem Handeln zu verselbständigen, sondern es
muss auch lernen, sich durch dieses erkennende Bewusstsein in seinem eigenen Handeln zu
bestimmen. Nur wer aus der Erkenntnis handelt, realisiert seine Freiheit. Hier liegt nun
die bedeutende Aufgabe, die der Kunst in der Erziehung zukommt. Denn sowohl im
künstlerischen Erleben als auch in der eigenen künstlerischen Arbeit wird die Fähigkeit
erübt, Erkennen und Handeln aktiv zu verknüpfen. Dieses findet in den ersten Schuljahren
darin seinen Ausdruck, dass alle Lernprozesse mit künstlerischer Gestaltung verbunden
werden (zum Beispiel bei der Handarbeit in den ersten Schuljahren); in den höheren
Lernstufen darin, dass zwischen den Bereich des wissenschaftsbezogenen theoretischen
Lernens und den anderen des arbeitsbezogenen praktischen Lernens ein dritter ganz eigener
Bereich gestellt wird, dessen Aufgabe es ist, durch methodisch geleitetes künstlerisches
Üben den Jugendlichen zu befähigen, sowohl in den Prozessen seines Bewusstseins als
auch in seinen Handlungen die Integration von Theorie und Praxis aktiv zu vollziehen.
Der erwachsene, Mensch fühlt sich vor eine doppelte Herausforderung gestellt: Er muss
sich immer aufs neue mit sich selber identifizieren (Individuation), und er muss das auch
gegenüber seiner sozialen Umwelt vollziehen (Sozialisation), In dieser (dialektischen)
Spannung ist das Erlebnis einer Selbständigkeit als Person begründet; er muss daher
durch den Erziehungsprozess diese Doppelnatur in sich ausgebildet und zugleich gelernt
haben, sie in einen fruchtbaren Wechselbezug zu bringen. Indem er fähig ist, sich
eigene Interessenfelder aufzubauen, kann er sich in seinem Eigenwesen entfalten; indem er
die Fähigkeit besitzt, die Bedürfnisse und Notwendigkeiten seiner sozialen Umwelt
wahrzunehmen und aus Einsicht handelnd zu verändern, gewinnt dieses Eigenwesen seine
Identität.
Wiederum steht der Erzieher, der seine pädagogische Aufgabe darin sieht, die allseitige
und in sich differenzierte Verwirklichung des heranwachsenden Menschen durch Lernen zu
ermöglichen, vor der Frage, wie er das Kind so führen kann, dass sich diese
Differenzierung gesund vollzieht. Auch hier ist es entscheidend, dass durch eine
umfassende Lernanregung auf allen Stufen eine allseitige Entwicklung ermöglicht
wird. Denn anthroposophische Menschenkunde zeigt, dass die Grundlagen für das
individuelle Lernen in der kognitiven Entwicklung und die Grundlage für das soziale
Lernen in der motorischen Entwicklung liegt. Aus dem gleichen Grund, aus dem im heutigen
allgemeinen Schulwesen fast kein praktisches Lernen zu finden ist, ist dort auch das
soziale Lernen kaum anzutreffen.
Aber nicht nur individuelle und soziale Kompetenz müssen entwickelt werden, sondern
zugleich auch die Befähigung, diese beiden Pole personaler Entfaltung in fruchtbaren
Wechselbezug zu bringen. Das wird ermöglicht durch ein Lernen in Gruppenprozessen. So wie
für die Integration von Theorie und Praxis die individuelle Befähigung aus den
künstlerischen Ansätzen aller Lernprozesse erwächst, so ist das Lernen in einer
pädagogisch bestimmten Gruppierung das entscheidende Mittel, um die gegenseitige
Bedingtheit von individuellem und sozialem Lernen zu verwirklichen. Denn der
Heranwachsende erlebt, wie seine individuelle Entfaltung ermöglicht wird durch die
gegenseitige Hilfeleistung seiner Lerngruppe, und er kann erfahren, wie die eigenen
Kenntnisse und Fähigkeiten erst dann Bedeutung erlangen, wenn sie in dem gemeinsamen
Lernprozess wirksam werden.
Gruppenpädagogik ist darum ein Kernstück anthroposophisch orientierter
Erziehungskunst; diese sucht sie als ein durchgehendes methodisches Element zu
handhaben, aber doch immer so, dass sie den besonderen Anforderungen einer jeden
Entwicklungs- und Lernstufe entspricht.
Neben dem Verhältnis von Theorie und Praxis und dem von individuellem und
sozialem Lernen gibt es ein drittes Spannungsfeld im Menschen, dessen lebendiger
Wechselbezug für die Selbständigkeit der Person von grundlegender Bedeutung ist: Es
ist das die Polarität zwischen Bewahren und Verändern. Das Urbild für diese Situation
ist im Prozess der individuellen Menschwerdung selber gelegen, in dem der personale
Wesenskern des Kindes zunächst die leiblichen Bedingungen seinem Eigenwesen
entsprechend verändert, was aber nur möglich ist, wenn er sich einen völlig neuen Leib
aufbaut, für den der erste, ererbte Leib das Modell gibt. Ein Prozess, der sich in den
ersten Lebensjahren abspielt und in Erscheinungen wie dem Zahnwechsel und den
sogenannten Kinderkrankheiten seinen Ausdruck findet.
Zu den vorgegebenen Bedingungen gehören aber auch alle Erscheinungsformen der sozialen
Umwelt, von denen der Jugendliche lernend geprägt wird: ihre Lebensformen,
Ausdrucksweisen und Konventionen. Auch sie müssen so von ihm erworben werden, dass er
wohl über sie verfügen kann, ohne dass sie sein Eigenwesen festlegen; dass es also die
Fähigkeit besitzt, aufzunehmen, auszuüben, anzuwenden, aber auch die, zu verändern
und im Verändern fortzuschreiten.
Diese so beschriebene seelische Polarität findet in der Fähigkeit des Bewahrens ihren
Ausdruck im Gedächtnis und in der Kraft des Veränderns in der Phantasie. Beide Kräfte
müssen als aufeinander zugeordnete, als eine Polarität verstanden werden, wenn man sie
im heranwachsenden Kind wirksam entwickeln will. Diese Tatsache in der Entfaltung
menschlicher Eigenschaften bedingt, dass jede solche Eigenschaft nur dann menschlich
entwickelt werden kann, wenn sie im Wechselbezug mit der ihrer polaren Eigenschaft
angesprochen und gefördert wird. Das gilt auch für die Ausbildung von Gedächtnis und
Phantasie. Gedächtnis ist die Kraft, im Bewusstsein zu sammeln und zu bewahren (Wissen),
Phantasie die Kraft, zu verändern und neu hervorzubringen (Entwurf).
Doch bloßes Wissen droht zu fixieren, und es muss darum so angeeignet werden, dass es
instrumentalen Charakter erhält und Material ist für die eigene innere Produktivität
des Menschen. Bloßer Einfallsreichtum ist ebenfalls ohne Wert; er muss anknüpfen können
an das Vorgegebene, an die äußere Situation und an die inneren Erfahrungen - damit
Veränderung sich als Fortschritt vollzieht.
Das aber bestimmt die Methode einer anthroposophischen Erziehungskunst, wie sie an
Rudolf Steiner-Schulen praktiziert wird. Denn es gilt, dass das Wissen mit Hilfe der
Phantasie des Lernenden aufgebaut und angeeignet wird und alles Können so vermittelt
wird, dass es sich mit Besonnenheit und Einsicht verbindet.
In den ersten Schuljahren, in denen sich die seelischen Fähigkeiten des Kindes noch
wenig differenziert zeigen, ist beides ein auch im Unterrichtsvollzug eng miteinander
verflochtener Prozess. In den aufsteigenden Stufen differenziert sich das Lernangebot in
die mehr betrachtenden (theoretischen) und in die mehr tätigen (praktischen)
Lernprozesse; dann wird dieser Wechselbezug zur deutlich erkennbaren beide Lernbereiche
übergreifenden Methode.
Dass sich Gedächtnis und Phantasie so in einem Prozess gegenseitiger Förderung
entwickeln, ist eine entscheidende Voraussetzung für die innere Entfaltung der Person und
für deren Verselbständigung (Emanzipation). Denn aus der sich bildenden Polarität
erwächst in einem Prozess der Steigerung als dritte Kraft die Kreativität, von der uns
immer einsichtiger wird, dass sie die eigentliche Basis für die innere und äußere
Selbständigkeit des Menschen ist. Sie kann nur in einem Prozess, der selbst kreativ ist,
veranlagt und individuell ausgebildet werden. Darum muss Erziehung, muss die Ermöglichung
und Durchführung von Lernprozessen selber als Kunst vollzogen werden; darum sind alle
künstlerischen Mittel die malerisch-plastischen, die sprachlich-dramatischen und die
musikalischen so unentbehrlich zu einer entsprechenden Gestaltung der Lernprozesse.
Aus der skizzenhaft dargestellten anthropologisch begründeten Allgemeinbildung lassen
sich curriculare, methodische und organisatorische Konsequenzen auch für das berufliche
Lernen ableiten.
Dabei sei an dieser Stelle nicht primär die Didaktik der Berufsausbildung selbst
thematisiert, sondern insbesondere die Konsequenzen für die "Berufspädagogen"
und die Organisation der Ausbildung. Das berufliche Lernen findet an drei Lernorten statt:
der Lehrwerkstatt, dem Betrieb und der Schule. Aus traditioneller Sicht steht die
Lehrwerkstatt unter dem Primat der Einübung in das beruflich-praktische Lernen,
vermittelt der Betrieb das Lernen im Ernstfall des Berufes und ist es Aufgabe der Schule,
fachtheoretische und allgemeine Grundlagen zu vermitteln. Reinhard Zedler kennzeichnet
die Aufgaben der Lernorte in der neuen Berufsausbildung wie folgt: "Bei der
Vermittlung neuer Techniken haben Ausbildungsbetriebe die folgenden Aufgaben: die
systemspezifische Vermittlung von Kenntnissen, die praktische Vertiefung, Einbindung in
das betriebliche Umfeld und die Tätigkeit in der Produktion. Aufgabe der Berufsschulen
ist die systemunabhängige Qualifizierung, verbunden mit exemplarischer Umsetzung".
Damit nun aber für den Auszubildenden ein ganzheitliches Lernen ermöglicht wird, ist
zwischen den Lernorten eine kontinuierliche fachliche und pädagogische Abstimmung
erforderlich. Die Konsequenz wäre, dass Lehrer und Ausbilder sich regelmäßig treffen,
um sich fachlich abzusprechen; wir nennen dies didaktische Koordination. Ebenso
notwendig ist es, sich auch über den Lernfortschritt des Auszubildenden konkret zu
beraten (Auszubildenden-Besprechung), damit gezielte Hilfestellung gegeben werden kann;
man könnte hier analog von einer pädagogischen Koordination sprechen.
Peter Schneider, Universität Paderborn
Wie
entsteht eine Alternativschule?
Dieser Schulversuch geht auf eine Bürgerinitiative zurück, an der Eltern,
Lehrer und Wissenschaftler beteiligt sind. Sie haben, bevor sie den Antrag auf Genehmigung
stellten, über ein Jahr gemeinsam Erkenntnisse der modernen Pädagogik, der
Sozialpsychologie, der Schulsoziologie aufgearbeitet und die öffentlichen Erklärungen
des Bildungsrates und der Kultusministerien über Methoden und Erziehungsziele in der
Grundschule eingehend studiert. Dabei zeigte sich, dass es keineswegs nur an
finanziellen Mitteln liegt, wenn derartige Ziele und Methoden nicht oder nur begrenzt
realisiert werden können, sondern vor allem auch an dem Mangel an Kooperation zwischen
den beteiligten Gruppen, in erster Linie zwischen Eltern, Lehrern und Wissenschaftlern.
Die Hochschulpädagogik hat erst in den letzten Jahren begonnen, sich den praktischen
Schulproblemen zuzuwenden - aber immer noch mehr in der Betreuungsfunktion als in der
eines ständigen Mitarbeiters.
Die Initiativgruppe hat von vornherein ausgeschlossen, dass dieser
Schulversuch ein Elitemodell darstellen kann. Wir wollen kein weiteres Summerhill -
außerhalb der Industriegesellschaft und ausschließlich für begüterte Eltern. Deshalb
waren wir darauf bedacht, den Versuch innerhalb der Stadt, möglichst in einem
Industriegelände anzusiedeln. Das Projekt in einem verlassenen Industriegebäude
scheiterte an baupolizeilichen Sicherheitsvorschriften. Ich will mit diesem Hinweis nur
die Tendenz andeuten, dass es heute nicht mehr darum gehen kann, Schulmodelle zu
entwickeln, in denen die Kinder von den Problemen der Arbeitswelt und der
fortgeschrittenen Industriegesellschaft ferngehalten werden.
Und ein weiterer Punkt ist für uns von zentraler Bedeutung: die Beziehung
zwischen Elternhaus und Schule. Sie kann nicht darin bestehen, dass sich Eltern in der
Schule nur zeigen, wenn ihr Kind Schwierigkeiten hat. Dadurch hebt sich nicht der Konflikt
zwischen elterlichem und schulischem Erziehungswirken auf. Notwendig ist
kontinuierliche, inhaltliche Zusammenarbeit.
Im Schulversuch finden vierzehntäglich Elternabende statt; daneben, auf
Wunsch der Eltern, Einzeldiskussionen über Probleme ihrer Kinder. In bestimmten
Abständen gibt es Wochenendtagungen zu speziellen Fragen des Schulversuchs, die erste
vor etwa vier Wochen, an der sich über Dreiviertel der Eltern beteiligten.
Oskar Negt vor dem Schulausschuss der Stadt Hannover, 1973, über die ein
Jahr zuvor begonnene Glocksee-Schule
Der am Institut für Lehrerausbildung an der Universität in Tampere
als Professor wirkende Veli-Matti Värri fordert für die Lehrerausbildung zu einer
gründlichen Diskussion über die Werte und Aufgaben der Erziehung auf. Er wünscht sich
eine Betrachtung der Dinge von einem kinderphilosophischen Blickwinkel: fragend und
staunend. Man kann nicht alles aus der Sicht des summierenden Verstandes und des
wirtschaftlichen Nutzens ansehen: Die Sicht muss mehr umfassen. Das Kind sei kein
Kosten-Nutzenfaktor.
Das Heranwachsen des Kindes ist eine heilige Sache und sollte
ausserhalb der Betrachtung, was Nutzen bringt, bleiben, gibt Värri zu bedenken.
Die Schulen brauchen seiner Meinung nach Arbeitsruhe. Aller Wettbewerb sollte
aus der Schulwelt raus, ebenso die ständig anwachsende Qualifizierung (Ranking) der
Lehrerarbeit und Schule.
"Eine solche ist pervers. Natürlich braucht es irgendeinen allgemeinen
Maßstab für das Können, aber wir kämen da mit viel weniger aus. Wir haben in Finnland
gute Lehrer, die teilweise sogar Erziehungsverantwortung übernommen haben für das, was
eigentlich den Familien obliegt. Die Lehrer sollten geschützt werden und in Ruhe arbeiten
können. Aller von außen kommender Druck und Zwiespältigkeiten sollten aus den Schulen
entfernt werden", sagt er.
Värri dissertierte 1997 in Philosophie an der Universität Tampere. Er hat
als Lektor an der Universität und davor im Bereich des Kinderschutzes gearbeitet.
"Die Arbeit in Sonderkinderheimen ist hart und schwer. Ich fürchtete selber dabei
zynisch zu werden. Ich erlebte eine Art philosophischer Erweckung und fühlte, dass
zentrale Fragen der Philosophie und Ethik in der Erziehung ständig mit dabei sind. Ich
begann Philosophie zu studieren und wurde zuletzt Erziehungsphilosoph. Es war ein
sagenhaftes Glück in solch eine Arbeit zu geraten", erinnert sich Värri dankbar.
Veli-Matti Värri ist der Ansicht, dass der Abbau der überall in die
Gesellschaft eindringenden Nutzen- und Resultatsorientierung eine dringliche Aufgabe
ist. In dieser sollten die Lehrerausbildner als Anstoßgeber und Diskussionswecker wirken.
In der Gegenwart lässt die Fakultät für Lehrerausbildung es sich nach Värri angelegen
sein dem Staate lojal zu sein; herkömmlicherweise waren ja auch die Lehrer Vertreter des
herrschenden Systems, dessen Werte und Moral. Heutzutage liegen Werte und Moral jedoch
unter dem Stiefelabsatz der allvermögenden Wirtschaft.
Die Lehrerausbildung müsste, nach Värri, den künftigen Lehrern mehr
Proviant für ein kritisches Denken und Überlegungen anbieten. "Nach gängiger
Meinung studieren für den Lehrberuf leicht lernende, konservative, brave Mädchen. Das
stimmt gar nicht: Unter den Studierenden findet sich überraschend viel zartes, tiefes und
kritisches Potential. Viele Studenten wünschen sich eine viel radikalere
erziehungswissenschaftliche Ausbildung als sie heute zu haben ist sowie unter anderem
eine Diskussion über die ständig fortschreitende Kommerzialisierung der
Ausbildung."
Seiner Meinung nach besteht ein Problem darin, dass vier, fünf Jahre Studium
nicht reichen, um alles Geforderte sich wirklich gründlich anzueignen. Oder ein Problem
bildet der Tunnelcharakter der Ausbildung. Värri fordert uns auf zu überlegen, ob es
nötig ist, dass die Ausbildung Persönlichkeiten hervorbringt, die alle dieselben Dinge
beherrschen. Den harten Kern in der Arbeit des Klassenlehrers bilden Muttersprache und
Mathematik; deren Beherrschung müsste weiterhin das Zentrale sein, aber nicht auf Kosten
des handwerklichen Könnens und der Kunstfächer.
"Die Welt verändert sich ständig. Die Jugendlichen in der
Lehrerausbildung müssen ihr Ich heute in einer unsicheren Welt aufbauen. Die Schulung
müsste ihnen das Vertrauen geben, dass sie als Lehrer gut sein werden. Sie brauchen auch
die Voraussetzung zu einer Kritik der Schulpolitik und zum Verteidigen der Werte der
Erziehung."
Die Erziehungswissenschaft müsste zu ihren Wurzelfragen
zurückgeführt werden, was Menschlichkeit und ein gutes Leben beinhalten. Die künftigen
Lehrer müssen angeleitet werden zu erkennen, dass es wertfreie Forschung nicht gibt und
auch keine wertefreien Methoden. Das Grundproblem der Erziehungs-wissenschaft ist denn
auch seine Entfremdung vom Erziehungsdenken und dessen reicher Geschichte." So der
Professor.
Woher hat sich denn der alles durchdringende Glaube an Geld und das
Nützlichkeitsdenken in unserer Kultur breitgemacht? Der Philosoph Värri hält ein
Kennen der Geschichte und der Grundlage der eigenen Werte für erforderlich. In der
Gegenwart ist die Hegel-Snellmanische Nationalstaats-Ideologie nach Värri verblasst und
in die Krise geraten. Die Wirtschaft kennt kein Vaterland. "Als die
Wohlfahrtsgesellschaft aufgebaut wurde, war Schule und Schulung in einer Schlüsselrolle.
Die nationale Politik hatte die Lenkung der Dinge, so auch der Schulpolitik, und im Lande
herrschte wenigstens aufs ganze gesehen Harmonie. Heutzutage hat die Un-Gleichberechtigung
erheblich zugenommen, teils als Folge bewusster Politik, teils als Nachklang der Flaute
der 90-Jahre. Wir müssten eine Ideologie des gemeinsamen Wohlergehens zurückgewinnen und
eine Denkweise, die den Mitmenschen nicht im Stich lässt."
Im neoliberalen Wirtschaftsdenken handelt es sich um eine Verschiebung nach
rechts und um die Ideologie, dass "jeder seines Glücks eigener Schmied " sei.
Der Mensch ist selbst schuld, wenn er arm ist, wenn er nicht lernt seine Möglichkeiten
umzusetzen.
Um mitzuhalten muss der Mensch auf dem Markt bleiben. Er darf keinen
Augenblick schlapp werden. "In dieser Denkweise ist der Mensch eine alters- und
geschlechtslose, wieder aufladbare Batterie. Er hat keine eigenen Grundwerte und all sein
Tun ist berechenbar. Statt dass wir widerstandslos eine derartige Denkweise übernehmen,
sollten wir uns überlegen, was ein derartiges Hervorheben der Rolle der Arbeitswelt und
ein fortgesetztes Ausscheidungsspiel für die Familien, die Beziehungen von Kindern und
Eltern, für das Herausformen des Ich bei Kindern und Jugendlichen bedeutet."
"Der Abbau der Denkweise, die überall auf Nützlichkeit sieht, ist eine
außerordentlich große Herausforderung. Wir leben in einer Vergnügungskultur, wo
Hedonismus, Habgier und Rücksichtslosigkeit Worte des Tages sind. Wie können wir in
dieser Situation eine neue Moral aufbauen, dessen Kern ein gutes Leben wäre", fragt
Värri.
Und antwortet: Eine klare Lösung gibt es nicht. Auf die Jugendlichen
ist zu hoffen: ein Teil von ihnen ist kritisch und baut an einer Gegenkultur. Hoffnung
gibt es auch dafür, dass die Christlichen und die anderen Glaubensrichtungen sowie
neulinke Kreise sich finden und ihre Kräfte vereinigen. Und dadurch, dass die, die sehen,
ihre Stimme erheben und Gesprächsforen suchen.
Der Philosoph Värri hofft, dass eine Kultur der Langsamkeit an die Stelle
des hektischen Lebensrhythmus treten wird. "Wir brauchen Wachstumsruhe, Denkruhe und
Ruhe, um weise zu werden."
Aus Opettaja, finnische Lehrerzeitschrift 12/2004. Interview
durch Terhi Friman (übersetzt von Dietrich Mannaberg)
Bildung ohne Schule
von Olivier Keller
"Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir."
Entspricht diese Sentenz, die auf den römischen Philosophen und Staatsmann
Seneca der Jüngere zurückgeht, tatsächlich dem Kinderalltag? Weshalb verkam dieser
oft zitierte Sinnspruch, von Seneca ursprünglich als Kritik an der Schule gedacht, zum
moralisierenden Fingerzeig? Wann immer ich diese Worte während meiner Schulzeit
vernommen habe, liessen sie in mir ein dumpfes Gefühl zurück. Intuitiv wusste ich, dass
dies eine Masche aus der pädagogischen Trickkiste war, dass es sich dabei um einen Betrug
der "vergewohltätigenden" Generation handelte. Das, was mir in der Schule
beigebracht wurde, konnte höchstens ein Zerrbild der mich umgebenden Wirklichkeit sein,
hatte mit meinem eigentlichen Leben aber wenig gemein.
Heisst es im Volksmund nicht auch, dass das Leben der beste Lehrmeister
sei?
Im Jahre 1989 begann für mich ein aufregendes Abenteuer, das mir den
tieferen Inhalt dieser Volksweisheit in den verschiedensten Schattierungen vor Augen
führte und mich bis zum heutigen Tag fesselt. Ich begegnete damals Eléonore und André:
zwei Jugendlichen, die sich auf Anhieb kaum von anderen unterschieden, bis ich erfuhr,
dass sie während ihres ganzen Lebens nie eine Schulbank gedrückt haben. Ich muss
zugeben, dass mich dieser Umstand in ein Wechselbad der Gefühle versetzte. War es
wirklich möglich, ohne Schulunterricht zu einer aufgeschlossenen, kenntnisreichen
Persönlichkeit heranzureifen? Der Kontrast zu meinen Vorurteilen, die in mir Bilder
verwilderter Analphabeten aufsteigen liessen, war augenscheinlich. Um diesen
Kulturschock zu versinnbildlichen erzähle ich gerne die Geschichte von Eléonore, die
sich, damals knapp zwölf Jahre alt, in einem Pariser Bus sitzend, der Lektüre von Arthur
Schnitzlers "Sterben" widmete. Dieses "Sterben" entlockte einer Dame,
die ihr gegenüber sass, die Frage, ob diese Art Literatur im Lehrplan vorgesehen sei. Wie
üblich in solchen Situationen verwies Eléonore darauf, dass sie nicht in die Schule
gehe, worauf die Dame mit entgeisterter Stimme entgegnete: "Na, dann kannst du ja gar
nicht lesen!
Bildung ohne Schule: Ist das möglich?
Immer wieder nehmen Menschen zweifelnde, manchmal auch verärgerte
Gesichtszüge an, wenn sie mit dem Phänomen konfrontiert werden, dass unbeschulte Kinder
sich zu lebensfrohen und gebildeten Wesen entfalten. Der Glaube, jeder halbwegs
zivilisierte Mensch habe eine gewisse Anzahl Jahre das Etikett "Schüler"
getragen, ist erschreckend hartnäckig verbreitet. Die Schule hat mit einer
Eindringlichkeit von unserem Alltag Besitz ergriffen, dass es schwerfällt, den Wert
nichtinstitutioneller Lernprozesse zu erkennen und zu schätzen, obwohl Menschen die
wichtigsten Dinge im Leben ohnehin jenseits der Schule erwerben. Diese Diskrepanz lässt
sich nur durch eine Art massenhypnotischen Mythos erklären, der sich krampfhaft in
unseren Köpfen festhält: Wir sind vom Glauben an die karitative Rolle der Schule
dermassen geblendet, dass wir ihm unsere eigenen Wahrnehmungen opfern. Einerseits entgeht
einer Mehrzahl der Bevölkerung, wie belastend gesellschaftliche Konditionierung auf die
Persönlichkeitsstruktur wirkt, wovon die schulische ein wesentliches Moment ist;
andererseits fehlt das Sensorium für all die feinen und vielversprechenden
Lernbestrebungen und Lebensprozesse, die sich ohne jegliche Belehrung einstellen und
unabdingbar Bestandteil der Entfaltung des Menschen sind. Es bedarf keineswegs der
systematischen Unterweisung, um einen Bildungsvorgang zu erwirken, es bedarf auch keiner
künstlich erzeugten Motivation, um Kinder zum Lernen zu verführen. Alles, was es
braucht, ist die unbehinderte Teilnahme am Leben in einer sinnvollen, anregenden Umgebung.
Denn jeder Moment des Lebens ist ein Augenblick der Bildung - Leben ist der Inbegriff
allen Lernens. Leider haben wir den Zugang zu dieser urwüchsigen, allzu simpel wirkenden
Lebensauffassung, und damit zu uns selbst, verloren.
"Lernen ist keinen Heller wert, wenn es nicht von Freude begleitet
ist."
Wie wahr sind Heinrich Pestalozzis Worte, wie tragisch das Ausmass ihrer
Konsequenz, mit der sich alle, die eine Schullaufbahn hinter sich haben - mehr oder
weniger - konfrontiert sehen. Doch das Neugierdeverhalten ist eine natürliche Eigenart
des Menschen und die Freude am Lernen einer der bedeutensten Schätze des Lebens. Während
der Auseinandersetzung mit dem Lernen unbeschulter Menschen bin ich einem
unwiderstehlichen Drang gefolgt, dem Wesen des Lernens auf die Spur zu kommen. In diesem
Sinne widerspiegelt meine eigene Geschichte die Dynamik selbstinitiierter Lernprozesse,
bin ich selber ein Fallbeispiel für die berauschende Sogwirkung, die entsteht, wenn
Menschen sich für etwas zu interessieren beginnen. Dinge, die mir in der Schule
vergeblich beizubringen versucht wurden, bereiteten mir plötzlich Vergnügen. Ich
entdeckte die Freude am Schreiben; Orthographie war nicht mehr ein peinigendes Martyrium,
sondern machte Sinn; die französische Sprache, die mich bis anhin nur frustrierte, wurde
zum unumgänglichen Kommunikationsmittel; ich lernte aus praktischem Anlass - und nicht,
weil es Bestandteil des Lehrplanes war - einen Computer zu bedienen oder mit einem
Fotoapparat umzugehen. Während meines zweijährigen Aufenthaltes in Paris sammelte ich
bei Begegnungen mit Familien, deren Kinder nicht beschult werden, eine Vielzahl an
Materialien, die sich aus eigenen Beobachtungen, Erinnerungen von Kindern und Eltern und
anderen Dokumenten zusammensetzen, Spuren aus Vergangenheit und Gegenwart. Anschliessend
brachte ich die Eigenarten des Einzellfalles in eine Ordnung, damit sich das
Charakteristische erspüren lässt und sich gleichsam wie ein Schirm eine Atmosphäre
über das Ganze spannt. Streckenweise fühlte ich mich wie ein Archäologe, der
sorgfältig ein Bruchstück ums andere ausgräbt, um schliesslich Rückschlüsse auf eine
versunkene Kultur zu ziehen, wobei die Kultur eher eine zukünftige als eine vergangene
ist ... oder sein könnte: die Kultur des unbeschulten Menschen.
Olivier Keller
www.bildung-ohne-schule.ch
Eindrucksvolle
Belege und traurige Ignoranz
Collen Cordes und Edward Miller: Die pädagogische Illusion. Ein kritischer
Blick auf die Bedeutung des Computers für die kindliche Entwicklung. Übersetzt aus dem
Amerikanischen von Bruno Sandkühler, mit einem Geleitwort von Ernst Schuberth und einem
Vorwort zur deutschen Ausgabe von Uwe Buermann. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart
2002, 156 Seiten, kartoniert.
In dem Geleitwort, das dem Buch vorangestellt ist, heißt es:
"Erziehung ... ist nicht Prägung von außen, sondern Entfaltung der eigenen
Fähigkeiten in Wechselwirkung mit einer anregenden Umgebung. Das Buch bietet dem
Leser die Überraschung, fast möchte man sagen, die Sensation, dass es für die
Richtigkeit, besser Fruchtbarkeit dieser Auffassung hunderte von Belegen gibt, die von
empirisch tätigen Wissenschaftlern erarbeitet wurden. Ich jedenfalls bin bei der
Lektüre nicht aus dem Staunen herausgekommen. Dabei ist zugleich eine Seite der
amerikanischen Kultur sichtbar geworden, die gegenwärtig leicht übersehen wird. Es gibt
offenbar eine große Anzahl von Wissenschaftlern, die nüchtern und unvoreingenommen,
ohne Rücksicht auf Moden und Machtverhältnisse, ihre Forschungen betreiben und dabei
zu hoch spirituellen Ergebnissen kommen. Davon können wir viel lernen.
Im Folgenden werden einige Passagen des Buches, die besonders markante
Aussagen enthalten, wiedergegeben. Dabei wird auch die Literatur eingefügt, auf die sich
die Aussagen stützen.
"In vielen Fachgebieten belegt die Forschung, was aufmerksame Eltern und
Lehrer längst aus eigener Erfahrung wussten: Gesunde Entwicklung wird durch ein
Gleichgewicht von Freiheit, sicheren Grenzen und reichhaltiger Ernährung des ganzen
Kindes gefördert - seines Körpers und seiner Seele ebenso wie seines Kopfes. Dazu
heißt es in einer Fußnote: Alle Psychologen sind sich einig, dass die
gesündesten Kinder solche mit liebe- und verständnisvollen Eltern sind und nicht
diejenigen mit kalten und ablehnenden; solche, deren Eltern feste Regeln und
Konsequenzen praktizieren und nicht immer nachgeben, die die Individualität und
Autonomie des Kindes respektieren, statt in eine bestimmte Richtung Druck
auszuüben." (Vergleiche "Magic Trees of Mind" von Marian Diamond und Janet
Hopson, New York 1999)
"Das Kind wächst als organisches Ganzes. Seine emotionale, seine
körperliche und seine kognitive Entwicklung hängen untrennbar zusammen. In dieser
Hinsicht sind Untersuchungen mittels bildlicher Erfassung der Hirntätigkeit
aufschlußreich; sie deuten darauf hin, dass Erfahrungen jeglicher Art - emotionale und
soziale Wahrnehmungen, Sinneswahrnehmungen, körperliche und kognitive Erfahrungen - das
Gehirn formen sowie durch das Gehirn geformt werden und sich wechselseitig beeinflussen.
Mit anderen Worten: Gesundes menschliches Wachstum ist tiefgreifend vernetzt." Hierzu
wird erläutert: "Der Neurologe Frank R. Wilson ist medizinischer Leiter des ´Peter
F. Ostwald Health Program for Performing Artists at the University of California School of
Medicine in San Francisco. Er hat Forschungsstand und Theorien zum
Zusammenwirken von physischer Erfahrung und Gehirnwachstum in der kindlichen Entwicklung
zusammengefasst und dabei verschiedenste Fachgebiete berücksichtigt. Siehe Frank R.
Wilson: 'Die Hand - Geniestreich der Evolution. Ihr Einfluß auf Gehirn, Sprache und
Kultur des Menschen', 2. Auflage Stuttgart 2000. Darin bemerkt er: Keine
glaubwürdige Theorie des menschlichen Gehirns kann die Tatsache übergehen oder aus ihrem
Kontext lösen, dass sich räumliche Bewegung, Handeln, Kommunikation unserer menschlichen
Vorfahren gemeinsam entwickelt haben ... , Wilson bringt zahlreiche weitere
Forschungsergebnisse zu unserem Thema. "
"Die tiefer gelegenen Hirnzentren reifen zuerst; sie regeln die
Bewegung. Dann folgen die für das Gefühlsleben maßgeblichen Hirnstrukturen und
schließlich alle Neuralregionen, die das abstrakte Denken ermöglichen. Ein reiches
Netzwerk an Verbindungen zwischen den vorwiegend dem Gefühlsleben dienenden Regionen
und derjenigen für die höheren Denkfunktionen macht es möglich, dass Gefühle auch bei
den intellektuellsten Aufgaben beteiligt sind." Als Anmerkung wird genannt:
"Emotionale Intelligenz" von Daniel Goleman..
In jeder Phase gibt jedoch, wie entsprechende Studien erweisen, ein
starker emotionaler Bezug zu erwachsenen Ansprechpartnern - dem menschlichen Element -
den Halt, auf den es ankommt, wenn das Kind die Herausforderungen meistern soll, vor die
es in seiner Entwicklung gestellt wird. Die erwähnten Studien geben Hinweise, dass
tatsächlich die frühesten Erfahrungen im Gefühlsbereich die Grundlage bilden für
spätere Schulerfolge und dass Kinder, deren emotionalen Bedürfnissen in früher Kindheit
nicht entsprochen wurde, in den ersten Schuljahren noch sehr von einer gezielten
Förderung ihrer für den Schulerfolg erforderlichen emotionalen Fähigkeiten profitieren
können. Weitere Studien haben gezeigt, dass Teenager mit sicherer Elternbindung weniger
anfällig sind für Schulversagen, frühe Schwangerschaft, Drogenkonsum und
Delinquenz." Dazu werden unter anderem folgende Quellen erwähnt: Heart Start
The Emotional Foundations of School Readiness (1992), J.D. Hawkins und andere
"Communities that Care" (1992), und: Journal of the American Medical
Association, 9.9.1997.
Man kann sich kaum eine weniger Erfolg versprechende Bildungsstrategie
für kleine Kinder vorstellen als die Betonung abstrakten Denkens mit leistungsstarken
Computern als Antrieb. Warum? Weil Forschungsergebnisse aus verschiedensten
Fachbereichen deutlich darauf hinweisen, dass spätere intellektuelle Entwicklung ihre
Wurzeln in reichen Kindheitserfahrungen hat, die gesunde Gefühlsbeziehungen,
'hand-greifliche Auseinandersetzung mit der realen Welt und das Einüben der
Fantasie im selbst ersonnenen Spiel und in der Kunst miteinander verbinden. Intensiver
Computergebrauch kann Kinder wie Erwachsene von diesen wesentlichen Erfahrungen
abhalten." Zum Beispiel ist da erwähnt die Zusammenfassung von
Forschungsergebnissen bei Jane M. Healy: Your Childs Growing Mind, and the
Endangered Origins of Intelligence, 1997, sowie zum Zusammenhang von Spiel und
Intelligenzbildung: Children, Play and Development, 1998, ferner zum Zusammenhang von
Kunsterziehung mit Schulerfolg: Learning Improved by Arts Training (Martin Gardner und
andere in: Nature, 23.5.1996).
"So heißt es in einem Artikel der Zeitschrift 'Scientific American'
(Oktober 1984): 'Die menschliche Intelligenz löst zunächst Bewegungsaufgaben und
schreitet erst später zur Auseinandersetzung mit abstrakten Problemen fort.' Im Lauf
der Zeit scheint das sich entwickelnde Nervensystem körperliche Erfahrungen in eine
geistige Fähigkeit umzuwandeln, mit der abstrakte Gedanken gehandhabt, eingeordnet und
verstanden werden können. Die künstliche zweidimensionale Umgebung des Computerlernens
ist dafür nicht geeignet."
"Die American Academy of Pediatrics, Forum der amerikanischen
Kinderärzte, hat in einer Erklärung zu ihrer Haltung gegenüber Kindern und Werbung
darauf aufmerksam gemacht, dass das antike Gesetzbuch des Hammurabi 'es als todeswürdiges
Verbrechen definierte, einem Kind etwas ohne vorherige vormundschaftliche Ermächtigung zu
verkaufen'. Die Erklärung weist außerdem darauf hin, dass 'Kinder unter acht Jahren
ihrer Entwicklung nach nicht in der Lage sind, die Absicht von Werbung zu erkennen,
sondern alle Behauptungen der Werbung als wahr ansehen'. Die Schlussfolgerung ist
eindeutig; 'Die American Academy of Pediatrics ist der Ansicht, dass auf Kinder abzielende
Werbung ihrer Natur nach betrügerisch ist und Kinder unter acht Jahren ausbeutet'
(Children, Adolescents and Advertising, 1995).
Von der Bildungspsychologin Jane Healy wird das Zitat gebracht:
"Lehrer machen die Feststellung, dass die heutigen, von Videos überfluteten Kinder
in ihrem Inneren keine originalen Bilder formen oder bildhafte Vorstellungen entwickeln
können." (Failure to Connect, 1998)
"Der Umgang mit dem Computer kann auch die Empfindungen des Staunens und
der Ehrfurcht untergraben, die für Kinder bei der Begegnung mit der echten Welt der
Gesteine, der Käfer und der Sterne charakteristisch sind. Das Staunen vermag, besonders
wenn Eltern und Lehrer es teilen, die lernenden Kinder in gesunder Weise aufs stärkste zu
motivieren.
Wird diese Ehrfurcht vor der Schönheit und Erhabenheit des Lebendigen im
Verlauf der Kindheit bewahrt, so kann sie auch älteren Schülern eine Verpflichtung zur
Wahrheit vermitteln - als eine der wichtigsten Motivationen einer reiferen geistigen
Arbeit. Sind bei jungen Erwachsenen diese gesunden Fähigkeiten noch intakt, so werden sie
sich eher aufgerufen fühlen, das Gelernte zur Quelle ihres eigenen moralischen Handelns
im Dienst der Welt zu machen.
Ohne diese Fähigkeiten stellt sich die Versuchung ein, Wissen als Sammlung
nützlicher Fakten aufzufassen, die der Einzelne oder sogar ein ganzer Kulturkreis einzig
zur eigenen Unterhaltung und zu privatem Nutzen einsetzen kann. Kurz: das Staunen eines
Kindes kann später seine Früchte tragen im Verantwortungsgefühl des Erwachsenen für
seine Gemeinschaft und für größere Ökosysteme, von denen das menschliche Leben
getragen ist. (Fußnotenverweis auf C. A. Bowers: Educating for an Ecologically
Sustainable Culture, Rethinking Education, Creativity, Intelligence, and Other Modern
Orthodoxies, State. Albany 1995.)
"In dieser Hinsicht stellt der moralische Aspekt für die Erziehung die
gefährlichste Seite der neuen Technologie dar. Mehr als jemals zuvor verfügen Menschen
heute über Macht, gegeneinander wie auch gegen andere Wesen Krieg zu führen - mehr als
jemals zuvor aber auch über Macht, Leben zu erhalten. Wie können wir unsere Kinder auf
diese noch nie da gewesenen Verantwortlichkeiten vorbereiten? Wird das alleinige
Beherrschen technischer Fähigkeiten genügen? Oder wird ein neues Empfinden der
Ehrfurcht vor dem Leben wesentlich sein für das Überleben der Menschheit - vielleicht
sogar für das Überleben des Lebens?"
"Die gegenwärtige Tendenz zu frühem Computerge-brauch und
computerartigem Denken führt die Kinder zu starrem, logischem, algorithmischem
und von allem moralischen, ethischen oder geistigen Inhalt entblößtem Denken, wie es
für die Zusammenarbeit mit dem Computer charakteristisch ist, schreiben Valdemar
Setzer (Universität Sao Paulo) und Lowell Monke (Wittenberg University, Ohio), die selbst
Computerspezialisten und Erzieher sind. 'Eine solche beschleunigte, aber verengte
intellektuelle Entwicklung', fügen sie hinzu, 'bringt die Denkfähigkeiten der Kinder
auf ein Erwachsenenniveau, und zwar lange bevor ihre psychischen, geistigen und
moralischen Wahrnehmungsfähigkeiten stark genug geworden sind, um dieses Denken in
Schranken zu halten und ihm eine menschliche Richtung zu geben' (Challenging the
Applications, 1995).
"Nur wenige Eltern, politische Entscheidungsträger und Beamte der
Schulverwaltung scheinen sich klarzumachen, dass im Laufe der vergangenen dreißig Jahre
umfangreiche Forschungen gezeigt haben, dass Spiel, insbesondere Rollenspiel, in
einmaliger und entscheidender Weise zur intellektuellen, sozialen und emotionalen
Entwicklung der Kinder beiträgt. Dagegen konnte im selben Zeitraum nicht nachgewiesen
werden, dass Computer in der Grundschulerziehung irgendeinen entscheidenden Beitrag zur
kindlichen Entwicklung leisten. Dennoch wird in vielen Klassen Spielzeit einer
verlängerten Zeit am Computer geopfert. Dabei trägt Spielen natürlich auch zur
Gesundheit bei. (Hinweis auf Edgar Klugman/Sara Smilansky, Herausgeber: Children's Play
and Learning Perspektives and Policy Implications, New York 1990)
Richard Sclove, der Gründer des Loka Institute, vertritt in Domokracy
and Technology" die Ansicht, die Technik habe derart tiefgreifende soziale
Rückwirkungen, dass sie schon in sich eine Politik darstelle. Ein gründliches Erfassen
dieses Aspekts sei nach seiner Auffassung für eine echte Medienkompetenz ebenso
entscheidend wie selten: "Führende Köpfe unserer technischen Eliten ... behaupten
heute, dass wissenschaftlich-technisches Analphabetentum heute epidemische Ausmaße
angenommen habe und dadurch der nationale Wohlstand wie auch die Demokratie selbst bedroht
sei. Die Regierung Clinton sagt: 'Lebenslange Bürgerverantwortung basiert immer stärker
auf wissenschaft-lich-technisch fundierten verantwortlichen Entscheidungen. Wenn aber
das wichtigste Wissen über eine Technologie nicht in der Kenntnis ihrer inneren
Funktionsprinzipien liegt, sondern in ihren strukturellen Auswirkungen auf die
Demokratie, dann müsste solche Kenntnis den eigentlichen Kern technologischer Kompetenz
bilden. Trotzdem wissen Fachleute - auch Spitzenkräfte - in der Regel wenig über dieses
vorrangige Thema; sie wissen nicht einmal, dass es ein Thema ist. Muss man also nicht
trotz allem die Mehrheit unserer technischen Fachleute zu den technologischen Analphabeten
rechnen - im Sinne der sozial relevantesten Bedeutung des Begriffs?
Das ausführlich zitierte Buch begeistert und stimmt zugleich traurig. Es
dokumentiert eine überwältigende Fülle von Forschungen, die belegen, dass Kinder durch
den frühen Umgang mit Medien und Computern in ihrer Entwicklung geschädigt werden. Die
Technik mag sich entwickeln wie sie will, Kinder leben nach wie vor von der liebevollen
Beziehung zu anderen Menschen, vom Spielen und von der Begegnung mit der Natur.
Gerade weil das so eindrucksvoll gezeigt wird, springt - und das stimmt dann
traurig - die bodenlose Dummheit derjenigen ins Auge, denen es gar nicht früh genug sein
kann, dass Kinder am Computer sitzen. Mit nichtssagenden Allgemeinplätzen gelingt es
Politikern und Pädagogen, einschneidende Entwicklungen herbeizureden. Dabei profitieren
sie von der verbreiteten Technikgläubigkeit einerseits, der Unkenntnis kindlicher
Entwicklungsbedingungen andererseits. Eigentlich müsste jeder, der über die Ausstattung
von Schulen mit Computern zu entscheiden hat, dazu verpflichtet werden, das hier
besprochene Buch zu lesen. Da würde sich hoffentlich manches ändern.
Heinz Buddemeier
Die Welt ist gut, die Welt ist schön, die Welt ist wahr
Wer sich wahrhaft auf das Welterleben des kleinen Kindes einläßt, wird
bestätigt finden, daß sein Bedürfnis, die Welt zu erleben, sich an den oben genannten
drei Grundsätzen ausrichtet. Oft wird von der »kindlichen Unschuld« gesprochen, und in
der Tat ist es so: das Kind betritt unschuldig die Welt, schutzlos, mit offenen
Sinnen, vollkommen ausgeliefert allem, was nun bildend auf es einströmt und einwirkt. Das
Kind ist »ganz Sinnesorgan« im ersten Lebensjahrsiebt, so etwa formulierte es auch
Rudolf Steiner. Alles, was in dieser frühen Zeit ihm gegenübertritt, von ihm durch die
Sinne aufgenommen wird, wirkt bildend bis in die Organe hinein und schafft die Grundlage
für das gesamte spätere Leben. Wer kennt nicht das unsägliche großäugige Staunen
eines Kleinkindes einem jeden Gegenstand gegenüber, der vor es hingehalten wird? Es
greift danach, sucht ihn zu begreifen. Werden »gute, schöne« Gegenstände ihm gereicht,
so stärken diese sein Vertrauen zur Welt, sie sind ihm und seinem Organismus verwandt.
Wird ihm dagegen groteskes Plastikspielzeug gereicht, so tritt damit eine organfremde Welt
verunsichernd an seinen Organismus heran: Eine Botschaft einer Welt außerhalb der
»guten, schönen, wahren« Welt, der Welt des abstrakten Intellekts, welcher in Märchen
meist mit der bösen Stiefmutter personifiziert wird: Das Kind wird »mit einem giftigen
Kamm« gekämmt (Schneewittchen).
Der Erwachsene neigt heute leicht dazu, die Welt nicht als »gut, schön und
wahr« anzuerkennen, sondern als deren Gegenteil: als böse, häßlich und verlogen. Und
in der Tat bieten weite Räume der Industriegesellschaft dieses Bild: sie sind häßlich,
schlecht und verlogen, ja, die Lüge der Übervorteilung, des egoistischen
Gewinnmaximierens auf Kosten und durch Überlistung Anderer, des rücksichtslos-blinden
und egozentrischen »Kampfes ums Da-Sein« hat weiträumig Platz gegriffen, bis in die
»Globalisierung« hinein. Die »Deutsche Bank« gab kürzlich ein Musterbeispiel
antisozialen Handelns, was in derart krasser Offenheit und publizistischer Deutlichkeit
bisher fast einmalig ist, indem sie ankündigte, mehrere tausend Menschen aus Brot und
Arbeit zu entlassen um ihren Gewinn maximieren zu können.
Wäre es nach den Indianern gegangen, so wäre die Welt heute noch gut,
schön und wahr. Wer indianische Zeugnisse über das Leben in der Prärie liest, dem wird
deutlich, daß es dieser Bevölkerung bis zum Einbruch der Weißen an nichts gefehlt hat,
daß sie in weitgehender Harmonie mit sich und der Welt gelebt haben, in größerer und
tieferer jedenfalls, als ihre industriellen Nachfolger. Die Industriewelt und ihre weißen
Protagonisten haben es dagegen in kurzer Zeit geschafft, jahrhundertealte Natur- und
Kulturlandschaften in ver-seuchte, ausgebeutete Gebiete zu verwandeln, in denen jedem, der
sie betritt, Krankheit und Tod drohen. Es ist der Geist der Krankheit und des Todes selbst
von der weißen Zivilisation entfesselt und überall hin ausgebreitet worden, der Geist
der Häßlichkeit und Verlogenheit, und er wird es heute noch und fortwährend.
Darin liegt ein Rätsel, das die Indianer selbst nicht verstanden: Wieso der
»Große Geist«, der Manitou, es den »weißen Göttern« erlaubte, Tod und Zerstörung
überall hin zu bringen und es ist tatsächlich auch nicht leicht zu verstehen. Es
ist dies eine Art »Judasaufgabe« der weißen Menschheit, welche sie nicht nur in der
Conquista, in der industriellen Judenvernichtung und in den stalinistischen Exzessen
exemplarisch ausgeübt hat, sondern die sie auch in egozentrischer Kapitalkonzentration,
»Rohstoff«-Ausbeutung (wer hier »roh« zu nennen sei!), in Gentechnik, Atomwirtschaft,
Atomdrohung, Computervernetzung weiterhin ausübt es ist dies die Physiognomie
eines Verbrecherwirkens. Auf diesem Wege wird kein Gras mehr wachsen, denn nicht Judas,
der sich schließlich erhängt, und kein destruktiver Mörder, Henker und Verbrecher mit
ihm kann Träger der Zukunftsentwicklung der Menschheit sein! Geheimnisvolle
Vorgänge spielen sich beim sogenannten »Abendmahl« ab, welches später von Leonardo ins
weltberühmte Bild gesetzt wurde: Der Meister bricht das Brot und spricht zu den Jüngern,
daß er in Bälde verraten und dem Tode ausgeliefert werde. Auf die entsetzte Frage:
»Herr, wer ist es, durch den dies geschehen soll?« reicht er Judas das Brot und
spricht zu ihm: »Du mußt es tun!« Man möchte fast das Krachen des Abgrundes
hinter diesen Worten hören: »
denn alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde
geht« (Faust, Mephisto). Das göttliche Wort teilt selbst die Vernichtungsaufgabe zu.
Die Geister der Vernichtung sind nicht erst seit Neuem, sondern waren immer
schon allem Werden verbunden dies verkennt leicht der naive Naturliebhaber. So
bietet jeder Herbst das Bild der Verwitterung und Verwesung, die frühlinglichen Knospen
und sommerlichen Blätter gehen in Vertrocknung und Zerfall über. Die Früchte, die nicht
geerntet wurden, fallen zu Boden, verschimmeln und verfaulen. Eine Welt der Zersetzung, ja
der Zerstörung fällt über sie her, und nur dadurch wird das Maß der Dinge, der
Gesamtmenge eingehalten, an der Stelle des zu Humus führenden Todes kann Neues wachsen.
Das Herbstfest des St. Michael läßt diesen mit der Waage erscheinen (auch die Sonne
steht im Sternzeichen Waage). Es ist die Waage, auf deren Waagschalen Leben und Tod
liegen, die ungleichen Geschwister.
Das Kind lebt in der Werdezeit des Wachstums, des Aufbaus, und so ist es nur
natürlich, daß es nur dieses sehen und erleben will. Es erlebt die schöpferische,
aufbauende, konstruktive Seite der Welt. Selbst Kinder, die das nicht kennen, sind seltsam
berührt, wenn sie nur einen uralten, Suppe schlürfenden Menschen am Tische gegenüber
sitzen. Er repräsentiert ihnen eine Welt, gegen die sie innerlich natürlicherweise
eigentlich eine Art Abneigung hegen. Anders ist es, wenn dieser gleiche alte Mensch ihnen
abends in leuchtenden Bildern Märchen erzählt: Dann erleben sie nicht die Hülle,
sondern seinen unsterblichen Geist, der schon humorvoll sich über den Zerfall seiner
Hüllen hinweggesetzt hat und im Worte davon kündet.
Die Welt ist gut, schön und wahr von Grund auf, und die Mysterien des Todes
sind ihr geschwisterlich einverwoben. Auch verwesen die im Herbst herabfallenden Früchte
nicht vollkommen, sondern etwas bleibt übrig, oft durch eine harte, unangreifbare Schale
geschützt: Der Same, der Keim für das nächste Frühjahr. So sind es auch die
winterwährigen Knospen, welche die Vögel in der kalten Zeit des Schnees so gern
auspicken, welche durch ihre Schubkraft die herbstlichen Blättern fallen machen.
So wird deutlich, wie weder die eingeborenen Völker, welche von den weißen
Conquistadoren überrumpelt, versklavt und vernichtet wurden, noch diese weißen
Zerstörer selbst Träger der Zukunft sein können. Sie sind dem »Untergang des
Abendlandes« ausgeliefert, den schon Oswald Spengler prophezeite. Inmitten der
Verwesungskultur, geschützt durch eine »harte Schale«, müssen sich die Kerne und
Samenkörner finden, welche die Winterkeime, welche das »Schöne, Gute, Wahre« in eine
neue Zukunft tragen können.
Jegliche intellektuelle »Erklärung«, daß die Welt »nun einmal« so und
so ist, daß Kriege, Verbrechen und Umweltverseuchungen auf ihr stattfinden, nützt dem
Kinde nichts. Es will dies im Grunde auch gar nicht hören und kann es nicht anders
verarbeiten als in Alpträumen. Nur ein vordergründiger, im Grunde unwissender
Intellektualismus meint, das Kind in dieser Weise »realistisch an die Welt heranführen«
zu müssen, während es in Wirklichkeit Nahrung und Erkraftung sucht. Der »erklärende«
Intellektualismus, zu früh an das Kind herangebracht, führt zu nichts Anderem als zu
früher Vergreisung ein Bild, was man von drogengeschädigten Jugendlichen
oder neurasthenischen Computerkids kennt: »Es ist ein Schnee gefallen, und es ist doch
nicht Zeit man wirft mich mit den Ballen, mein Weg ist mir verschneit
«
so schildert es unübertrefflich ein altes Rhapsoden-Volkslied. Nicht die
Eiseskälte, die durch Medien, Computer, Fernsehen, Video, Kassetten allzu früh in die
Kindesseele einzieht (genauso gut könnte man ihm auch Kokain verabreichen) stärkt und
nährt sie, ebenso wenig das »Steine für Brot« denaturierter und suchtstiftender
(»Zusatzstoffe« und »Geschmacksverstärker«) Nahrung. Sondern gesunde, natürlich
geprägte Ernährung (welche zugleich Anteile kosmischer Nahrung in sich trägt), Natur-
und Wildnis-Erlebnisse in früher Kindheit weshalb einem manche kanadische
Landpomeranze mit 25 Jahren in strotzender Gesundheit entgegentritt (es sei denn,
sie wurde »wegen der Einsamkeit« ausgiebig mit TV be-arbeitet). Das Hereinholen
von Haustieren, Selbst-backen von Brot und Kuchen, Pflege eines kleinen (Schreber-)
Gartens und die Beteiligung der Kinder daran sind keineswegs nostalgische Rückgriffe auf
eine vergangene Zeit, welche »wegzuerklären« ist. Vielmehr ist es der legitime Einsatz
und die Verstärkung von Mitteln, denen auch der Mensch der Gegenwart durchaus
fortwährend sein Leben verdankt, selbst wenn er sich von morgens bis abends den
Welthunger und die neuesten US-Kriegsschauplätze unausgesetzt vor Augen führt. Er mag
sich selbst mit solchen Szenarios des Wahns beglücken für die Kinder haben sie
keinerlei Bildungswert.
Würde man eine Kinderpartei gründen, so würde man bald an deren Programm
sehen, daß Frieden, Völkerverständigung und Glück ganz oben auf der Speisekarte
stehen. In diesem Sinn kann der neurosengeplagte Erwachsene manches von den Kindern lernen
und tut gut daran, ihnen ab und zu zuzuhören. Und in diesem Sinne ist es auch
gerechtfertigt, wenn er ihnen zu ihrer eigenen Stärkung Bildungselemente aus der Welt des
»Guten, Wahren, Schönen« zuflößt.
Andreas Pahl
Der neue
Eulenspiegel ist eröffnet
Eine turbulente Zeit löst die nächste ab. Wir haben den Eröffnungstermin
um eine Woche verschoben. Zu viele Arbeiter gingen in der Küche ein und aus, so daß
Alfred Stadler nicht kochen konnte. Der Lagerraum war zu knapp und der Elektriker ist noch
nicht fertig ... So erlebten wir die letzten Tag der Renovierung.
Doch das hat sich gelohnt. Ein wirklich neuer Eulen-spiegel präsentiert sich
den Gästen. Sanfte Farbtöne, lichte Vorhänge, eine leichtere Decke und überhaupt
offenere Räume. Ein großzügiger Kinderspielbereich, ein neues großes Nebenzimmer, das
auch von Gruppen genutzt werden kann. Das gewohnte Rustikale ist zwar noch da, zeigt sich
aber in neuem verspielten Gewande. Neue Stühle und Sessel gestalten das Lokal zu
einem etwas feinerem um.
Die Speisekarte ist von Monika Halbhuber und Alfred Stadler in engem
Zusammenhang mit der Fünf-Elemente-Lehre komponiert (möchte ich fast sagen).
Es gibt noch Eulenspiegel-Klassiker, doch ansonsten ist eine neue Speisekarte entstanden.
Ich selber laufe herum, mit den alten Gewohnheiten in den Gliedern und
doch ist es ein neuer Ort. Ein schöner Ort.
Ach ja, vieles, was früher klar war, muß heute neu geregelt
werden: wer macht die Holzhausreservierungen, die Bewirtung des Saal, Absprachen mit
Kultur und Restaurant und vieles mehr doch so langsam spielt es sich ein.
Ein schöner neuer Eulenspiegel. Viel Erfolg für Monika und ihr Team!
dk
Neu gestaltetes Programm
Die Kultur- und Begegnungsstätte Eulenspiegel hat ihr Faltblatt neu
gestaltet, dank der Unterstützung von Bernd Altenried, einem Grafiker aus Lindau. Eine
neue Schrift, das Format quer und schon ist es neu. Viele Veranstaltungen starten mit der
Wiedereröffnung des Eulenspiegels.
Peter und der
Wolf
Und einen umwerfenden Erfolg mit der ersten Veranstaltung Peter und der
Wolf, ein Figurenspiel des Chaussée-Theaters mit Billy Bernhard und Anke Scholz:
150 Kinder stürmten das noch nicht fertige Lokal, so daß wir zwei Aufführungen machen
mussten.
Mitgliederversammlung
Eine eher kleine Runde diskutierte entspannt die Entwicklung des
Eulenspiegel. Das inhaltliche Programm fand Zustimmung und die Haushaltspläne der
kommenden Jahre sind gespannt und hängen mit dem Erfolg der Gaststätte eng zusammen.
Trotzdem schaute die Versammlung positiv in die Zukunft. Heiko Brinkmann und Martin
Rösing wurden verabschiedet, da sie sich nicht wieder zur Vorstandswahl
stellten. Dieter Koschek kandidierte dafür und somit setzt sich der neue Vorstand aus
Klaus Korpiun, Günter Edeler und Dieter Koschek zusammen.
Für das Jahr 2006 wird die Mitgliederversammlung am Freitag, den 24. Februar
abends stattfinden. Und am Samstag und Sonntag soll das Freundeskreistreffen zu einem
kleinen Seminar ausgebaut werden.
Sozialpolitische
Akademie
Dieter Koschek startet mit der AG SPAK eine neue
Akademie. Im ersten Jahr werden im Eulenspiegel acht Wochenendseminare
stattfinden. Unterstützung für Vereine, Theaterseminare nach Augusto Boal, ein
Clownseminar mit Elke Maria Riedmann und eine Einführung in Community Oranizing (ein
bestimmte Form von Gemeinwesenarbeit) stehen auf dem Programm. Zwei weitere Seminare zu
Gestaltung am PC finden in Neu-Ulm statt.
Das Programm kann angefordert werden bei:agspak, Dorfstr. 25, 88142
Wasserburg
Aktion Wahlstreik!
Für das Recht auf bundesweite Volksabstimmung!
Der OMNIBUS FÜR DIREKTE DEMOKRATIE ruft alle Wahlberechtigten in Deutschland auf, sich
durch die Aktion Wahlstreik!, die wir im November 2004 gestartet haben, das
Recht auf bundesweite Volksabstimmung zu erstreiten.
Die AktionWahlstreik! beginnt mit Aktionskarten, die an unsere Volksvertreter
in Berlin gesandt werden sollen. Die darauf abgedruckte Willenserklärung lautet: Hiermit
beauftrage ich Sie, die dreistufige Volksgesetzgebung auf Bundesebene einzuführen. Sollte
die Volksabstimmung nicht bis zur nächsten Bundestagswahl eingeführt sein, gehe ich
nicht zur Wahl und setze meine Stimme aktiv für das Abstimmungsrecht ein, indem ich meine
Wahlbenachrichtigung an den OMNIBUS FÜR DIREKTE DEMOKRATIE sende. Er wird unsere Stimmen
sammeln und öffentlich machen.
Der OMNIBUS FÜR DIREKTE DEMOKRATIE wendet sich mit dieser Aktion an alle Bürger, die aus
den verschiedensten Gründen keine Parteien mehr wählen können oder wollen und deren
Stimmen in der politischen Willensbildung klanglos untergehen. Kurt Wilhelmi, der Leiter
des Berliner OMNIBUS-Büros, sagte dazu: Wir können nicht mehr verantworten, bei
der Wahl unsere Stimmen bedingungslos wegzugeben. Wir müssen die Stimme zu jeder Zeit
wieder ergreifen können. Erst Wahlen und Abstimmungen sind Demokratie. Die
Mitarbeiter des OMNIBUS (omnibus, lat., für alle, durch alle, mit allen) rechnen nicht
mehr damit, daß unsere Politiker die Volksabstimmung freiwillig einführen, obwohl laut
der letzten FORSA-Umfrage im vergangenen Jahr 87% der Bundesbürger das
Volksabstimmungsrecht auf Bundesebene wünschen.
Mit der Einführung der bundesweiten Volksabstimmung soll die Möglichkeit geschaffen
werden, daß die Bürger aus ihrer unmittelbaren Lebens- und Arbeitspraxis heraus
Vorschläge entwickeln und in die gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse einbringen
können. Die Menschen sollen in einzelnen Sachfragen die Verantwortung direkt übernehmen
können. Gewissensfragen kann man nicht an Politiker delegieren, man kann sie an
niemanden delegieren. Deshalb brauchen wir auf Bundesebene unbedingt das Abstimmungsrecht,
sagt Michael von der Lohe, Geschäftsführer des OMNIBUS.
Die Erstauflage von 25.000 Aktionskarten ist bereits verteilt. Die Menge der Anfragen im
Berliner Büro läßt auf große Resonanz schließen.
Mehr unter: www.aktion-wahlstreik.de
Das Weibliche und der Sonnenstaat
Konkrete Utopie Soziale Plastik
III. Beuys-Symposion in Achberg 28.08.-04.09.2005
Das dritte Achberger Beuys-Symposion
Im Laufe der letzten beiden Jahre ist das Achberger Beuys-Symposion im
Dreiländereck am östlichen Bodenseeufer zum gut besuchten Event und interessanten
Ereignis herangereift, so daß es 2005 zum ersten Mal mit einem Akademievorlauf ergänzt
wird. Mehrere 100 Menschen trafen sich die letzten beiden Jahre in Achberg, um die Arbeit
des Weltkünstlers, Philosophen und Sozialreformers Joseph Beuys unter verschiedenen
Blickwinkeln (2003: Pädagogik/Therapie, 2004: Kapital/Geld) zu bewegen und zu befragen.
Dabei konnte die Tagung selbst erste Schritte in Richtung einer Sozialen Plastik gehen,
bei der nicht nur diskutiert und geredet, sondern auch auf der zwischenmenschlichen Ebene
im Sinne eines Wärmeorganismus gehandelt und gestaltet wurde. Die Erfahrung der letzten
Jahre zeigte, daß sich in den Vorträgen und im Dialog aller Teilnehmenden durch
Mitdenken, Mitreden und Mithandeln ein großes kreatives Potential entfaltete und sich so
auf schönste Weise die von Joseph Beuys vertretene These von der Sozialen Plastik
bestätigte. In diesem Sinne möchte das III. Beuys-Symposion wiederum weiter wachsen. Es
sind alle Menschen herzlich eingeladen!
Das Weibliche und der Sonnenstaat
Die Frau hat sehr viel Elementares in sich. Der Mann hat sehr stark die
materialistische Entwicklung auf die Todesprinzipien durchgemacht. Er ist also sehr viel
abstrakter entwickelt worden als die Frau, die von ihren guten Einsichten oder auch
Stimmungen und Gefühlen mehr als andere in der anderen Welt behalten hat, Gott sei Dank.
Deswegen muß aber heute diese Kraft, die die Frau in sich hat, kommen." Joseph Beuys
"Das weibliche Prinzip wollte ich gerne herausstellen. Ich wollte mich damit
identifizieren ... Das Lebensprinzip hat mich immer interessiert, das drückt sich durch
die Frau aus. Die Frau tritt heroisch auf, als Heldenfigur, als Amazone, als Aktrice, die
eine gewisse Führungsrolle übernimmt, also viel heroischer und kämpferischer als der
Mann. Joseph Beuys
Das Weibliche
Wir leben in einer Zeit, die seit etwa 2000 Jahren männlich geprägt ist.
Die Tendenz ist: Welt und Natur wurden erobert und untertänig/dienstbar gemacht. Das ist
die männliche Geste, aber wohlgemerkt nicht zwangsläufig die des Mannes: Das
Maschinenzeitalter ist ein Produkt der Männerkultur, und die Art und Weise dieser Kultur
macht die Betätigungsweise für die Frau in einem höheren Maße zur Unmöglichkeit als
die Betätigungsweise des früheren Wirtschaftslebens.
(R. Steiner über Die Frauenfrage)
Viele Interpreten unserer Zeit sind sich darin einig, daß wir einen tiefgreifenden
Paradigmenwechsel erleben, der so etwas nötig macht wie eine weibliche Kultur.
Worin aber besteht diese Qualität des Weiblichen? Joseph Beuys hat lange vor der
Frauenbewegung und vor einer in den 70er Jahren aufblühenden feministischen Theologie
also bereits in der unmittelbaren Nachkriegzeit in Werk und Arbeit dem
weiblichen Gestus einen Vorrang eingeräumt. Nicht nur seine unzähligen Zeichnungen haben
Frauen in den unterschiedlichsten Erscheinungsweisen zum Gegenstand: Aktrice, Mutter mit
Kind, Amazone, Callgirl, Jungfrau, Schwangere. Viele seiner Werke sind einem weiblichen
Thema gewidmet, etwa Kopf Brust Unterleib der Magd Joseph Beuys 1964 oder
Basisraum Nasse Wäsche 1979 oder Badewanne für eine Heldin
1950/84.Das Weibliche läßt sich als das Empfangende, das Hegende und Pflegende
charakterisieren, während das Männliche als das Erobernde, das Befruchtende, das
Richtung Gebende beschrieben werden kann. Beuys selbst hat das Weibliche auch einmal im
Bilde der Lauge (basisch) charakterisiert, das Männliche hingegen in dem der Säure. Beim
Weiblichen spricht er vom kolloidalen Charakter (in feinster Verteilung
befindlicher Stoff), wie er beispielsweise im Bilde der Seife erlebt werden kann, der die
Tendenz hat eine Schale zu bilden, etwas einzuhüllen: Da ist ein
weibliches Prinzip. Dann kann man vermuten, daß das andere ein sehr aktives Prinzip ist.
Das eine ist ein liebevoll umhüllendes Prinzip, das die Dinge durchträgt, während das
Säureprinzip ein sehr aktives Element ist, das sich durch alles durchfrißt.
(Zitat nach H. Schulz: Plazentavorstellung
von Joseph Beuys Köln
1997)Beuys verwendet meist weibliche Figuren, um spirituelle Energie auszudrücken: Sibylla
und Pythia als Seherinnen der Zukunft und Inspirationsfiguren, die
Verkünderin des göttlichen Orakels und Kassandra als mythische Seherin.
Frauen sind Bildhauer in ihrer Tätigkeit und Beuys weist uns den Weg zum androgynen Wesen
des Menschen.
Der Sonnenstaat
Der Begriff des
Sonnenstaates von Tommaso Campanella wurde von Beuys immer wieder als mehr
atmosphärische Metapher für die Soziale Plastik verwendet, ohne daß er den
deutlich vom Autor vorgegebenen, wenn auch akzeptierten Verhaltenskodex dieser
mittelalterlichen Vision direkt übernahm. Vielmehr ging es ihm darum, das Bild zu nutzen,
d.h. Wärme und Licht, die in dem Begriff des Sonnenstaates liegen, mit seinen
Vorstellungen zu verbinden. Es war ihm klar, daß keine neue Gesellschaft ohne
(zwischenmenschliche) Wärme, d.h. ohne Liebe entstehen könne. So schrieb er auf die
erste der drei Achberger Tafeln Liebe ? Freiheit ? Sonnenstaat und führte
aus: Man könnte ihn (den zukünftigen Planeten) nach der Utopie, wie sie ja genannt
wird von Campanella, den "Sonnenstaat" nennen. Das Werkzeug, die Soziale
Skulptur als eine Brutstätte
, aus der dieses Fahrzeug, diese Wärmefähre erzeugt
werden kann. (in: Kunst = Kapital, Wangen 1993) Wie wir diesen Begriff heute neu und
mit Beuys Hilfe er/füllen können, das wollen wir auf dem Symposion erarbeiten und
erleben.
FIU-Verlag und -Versand, Rainer Rappmann
Am Schwarzenbach 25, 88239 Wangen (Allgäu)
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Rainer Rappmann
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