jedermensch | |||||||||||||||||
Jedermensch
Zeitschrift
für soziale Dreigliederung, neue Lebensformen und Umweltfragen Winter 2002 - Nr. 625 |
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Inhalt
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Katastrophales Drohen
Nachdem das vergangene 20. Jahrhundert durch zwei Weltkriege
gezeichnet war, die in unmittelbarer Mitwirkung von Deutschland standen, ist das Nein zu
einem Waffengang gegen den Irak, zu dem sich die rot-grüne Bundesregierung durchrang, ein
wirklicher Wandel. Dass von diesem Ort ein entschiedenes Signal zur Mäßigung in dem
Konflikt kommt, ist von amerikanischer Seite wohl nicht erwartet worden. Längst war die
Kriegspropaganda angelaufen, um eine Betroffenheit über die Attentate vom 11. September
2001 in diese Richtung zu lenken. Nach der deutlichen Bekundung für ein friedliches Vorgehen von der
deutschen Regierung (mit breiter Unterstützung der Bevölkerung) wagten sich auch andere
aus der Deckung. Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen wie Frankreich,
Rußland und China verlangten eine entschärfte Resolution, die dem Irak
wenigstens eine Chance lässt, mit den geforderten Kontrolleuren zusammenzuarbeiten. Erst
dann soll über das weitere Vorgehen entschieden werden. Die amerikanische Bush-Regierung
entwarf zunächst Formulierungen, die quasi unerfüllbar, eine völlige Selbstentmachtung
der irakischen Führung vorsahen. Ansonsten muss eben ein Krieg her. Etwas Ähnliches gab
es schon gegenüber Serbien, dem im französischen Rambouillet eine Unterwerfung
angetragen wurde. Die Nichtannahme führte dann zur Bombardierung durch den
Nordatlantik-Pakt. Zwar wurden jetzt auch in den Vereinigten Staaten kritische Stimmen
vernehmbarer mit zum Teil erstaunlicher Offenheit. Und aus der Bevölkerung war bekannt,
dass diese mehrheitlich nur einen Krieg befürwortet, wenn er im Einvernehmen mit den
Vereinten Nationen steht. Doch die beiden parlamentarischen Kammern stimmten letzten Endes
einer fast unbeschränkten Ermächtigung zu, Präsident George Walker Bush die
Entscheidung für einen oder auch mehrere Kriege zu überlassen. Er solle nur im
Nachherein das Parlament benachrichtigen. Dabei äußerte sich sogar der Chef des Geheimdienstes CIA, George
Tenet, in dem Sinne, dass vom Irak derzeit keine Gefahr für andere Staaten ausgehe.
Dieser ist auch mitnichten ein besonderer Förderer des islamischen Terrorismus. Wobei es
allerdings dann gefährlich werden kann, wenn ein Angriff erfolgt mit dem Ziel, das
irakische Regime zu vertreiben. Dann könnte es tatsächlich zum Äußersten greifen. George Tenet war zuvor schon eingehend mit den nah-östlichen
Problemen beschäftigt gewesen. Er stand einer Kommission vor, die einen Friedensplan für
Palästina ausarbeiten sollte. In ähnlichem Sinne sprach auch der nun mit dem Friedensnobelpreis
ausgezeichnete ehemalige Präsident Carter. Es ist nur zu hoffen, dass die US-Regierung
von George W. Bush sich von den Mahnungen aus dem eigenen Land beeindrucken lässt. Viel stärker müsste auch die Welt darauf pochen, dass es sich bei
dem Vorhaben um einen verbotenen Angriffskrieg handelt. Das ändert sich auch nicht
dadurch, dass man ein wahrhaft schurkisches Zwangsregime im Blick hat. Davon gibt es
mehrere. Aggressives Verhalten gegen andere Staaten zeigten in den letzten fünfzig Jahren
ebenfalls die Vereinigten Staaten. Und die verabschiedete Präventiv-Kriegs-Doktrin ist
ein Schlag ins Gesicht jeglicher internationaler Vereinbarungen. Kriegführen aus dem
Grunde, dass ein anderer genauso Waffen besitzt, die das eigene Land erreichen, wie man
selbst den anderen erreicht, heißt den Grundgedanken der Vereinten Nationen zu verletzen.
Die Erfahrungen der beiden Weltkriege werden verworfen, weil man sich stark genug fühlt,
allein nach eigenem Gutdünken zu walten und letztlich andere zu beherrschen. Dem sind jede Menge Vertragsbrüche und das Scheitern-Lassen
internationaler Vereinbarungen vorangegangen. Fast makaber wirkt der Vorwurf, der Irak
besitze unerlaubte biologische und chemische Waffen. Um die eigenen Bestände und
Laboratorien nicht offen legen zu müssen, ließen die Vereinigten Staaten vor Jahresfrist
gerade ein diesbezügliches Kontrollabkommen scheitern. (An der anfänglichen Ausrüstung
vom Irak mit diesen Waffen waren vornehmlich auch die Amerikaner beteiligt. Damals galt
Saddam Hussein als Verbündeter, als er gegen den Iran losziehen ließ.) Die Seiten haben sich gewechselt und nun soll die ganze Welt
glauben, dass es keinen schlimmeren Feind gäbe als den Irak. Das ist sicher nicht die
ganze Wahrheit. So sprach die ehemalige englische Nordirland-Ministerin Mowlam davon, dass
hier wohl auch Ölinteressen im Spiel sind. Der Irak hat angeblich die zweitreichsten
Ölvorkommen der Welt - nach Saudi-Arabien -, und die Vereinigten Staaten sind der
mit Abstand größte Ölverbraucher. Dazu darf man wohl ruhig nehmen, dass die jetzige
Regierungsmannschaft hier vordem mit dem Ölgeschäft verbunden war. Dass also da nur
selbstlose Interessen walten, die Menschheit von einem Übel zu befreien, mag bezweifelt
werden. Zudem geht es nicht nur um Saddam Hussein. Es geht um technischen
Krieg. Das heißt um ein Niedermetzeln ganzer Armee-Einheiten. Meist ohne Möglichkeit,
sich zu wehren, würden wieder Abertausende irakische Menschen niedergestreckt. Das war im
vergangenen Golfkrieg so, als ganze Schützenlinien mit Bulldozern zugeschüttet und
fliehende Soldaten zu Tausenden aus der Luft getötet wurden. Und die unzähligen zivilen
Opfer! Selbst ein Bunker, in dem eine verängstigte Bevölkerung Schutz suchte, wurde von
oben gesprengt. Das zermürbte Land mit der gezielt zerstörten Infrastruktur wurde
anschließend mit einem Embargo belegt, so dass der Aufbau nur mühsam weiterkam.
Westliche Hilfsorganisationen berichten, dass dadurch Tausende Kinder und Schwache in den
folgenden Jahren starben. Als weiteres ist zu bedenken, was mit solchem Vorgehen in die Welt
gesetzt wird. Rechtliches braucht nicht mehr zu gelten; der Stärkere nimmt sich seinen
Teil, notfalls mit Gewalt. Andere Staaten können sich auf dieses Vorbild
berufen. Ein Blick auf Israel zeigt, in welche Abgründe jene Haltung führt. Eine
wechselseitige Steigerung von Hass und Gewalt ist deren Folge. Sicher sind daran beide
Seiten beteiligt. Deshalb muss aber da Einhalt geboten werden, wo man sich vernunftgemäß
die möglichen Folgen klarmachen kann. Fanatisierte Menschen aus dem arabischen Raum haben der westlichen
Großmacht einen Stich versetzt, den diese in schlimmster Weise beantwortet. Das ist
keineswegs besser, sondern fordert dagegen noch viel mehr Opfer. Schon in Afghanistan
mussten mehr Menschen sterben als in den einstürzenden Hochhäusern. Soll sich in Zukunft
ein gutes Ost-West-Verhältnis bilden, muss dies als sein schlimmster Gegensatz gelten. Es
sind besondere Qualitäten, gedanklicher und auch äußerer Art, die auf der Erde in
Einklang zu bringen sind. Das kann am wenigsten mit Machtansprüchen gelingen. Allein die
Fragestellung Was gilt den Menschen als eine Wirklichkeit? kann in den
verschiedenen Erdregionen zu überraschenden Ergebnissen führen. Um so mehr sind jetzt Bemühungen um Verständnis und Vermittlung
angesagt. Die Kontrahenten müssen zur Mäßigung aufgerufen und Bedingungen des
Zusammenlebens Verschiedener entwickelt werden. Das Buch In Gegensätzen
miteinander des Anthroposophen Hermann Jülich mag hier ein Leitthema für eine
ganze Epoche sein. Was in kleineren Gemeinschaften, auch der anthroposophischen,
aufzuarbeiten war, hat den Kreis der ganzen Menschheit erreicht. Soziale Gedanken Rudolf
Steiners sollten auch daran überprüft werden, inwieweit sie Hilfen geben, die
derzeitigen und zukünftigen Verstrickungen in menschenwürdigem Sinne zu lösen, so dass
Freiheit ebenso wie Brüderlichkeit, durch das Zugeständnis an Gleichheit mit dem
anderen, Grundbestand unseres gemeinsamen Erdenlebens werden können. Jürgen Kaminski Das Sozialforum
als Grundstein einer europäischen Friedensbewegung Yvonne Lott Ich
habe die Arbeitslosigkeit abgeschafft! Entschuldigung, ich wollte niemanden zur Wahl der Grünen verführen
oder dazu überzeugen, mein Artikel im letzen jedermensch erschien ja auch
erst nach der Wahl. Trotzdem Richtigstellung: Die Wahl der Grünen für den jetzigen
Bundestag war nicht besonders klug, denn die ersten Wochen nach der Konstituierung der
neuen rot-grünen Bundesregierung zeigen erneut, dass in einer Regierung kein
Sachverstand zu erwarten ist (von einer schwarz-gelben erst recht nicht). Die nun hektisch auf den Weg gebrachten Reformen im
Gesundheitswesen und in der Arbeitsmarktpolitik sind eindeutig dem herrschenden
Wirtschaftsdenken zu verdanken und zeugen nicht von einer Zukunft. Das ganze Dilemma, so hört man, entspringt einer Wirtschaftskrise,
was heißt: die Wirtschaft wächst nicht so wie so soll. Aber gerade dieses Denken über
Wirtschaftswachstum spricht ökologischen und sozialen Gesichtspunkten Hohn. Die
westlichen Industrieländer, die nur 20 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen,
verbrauchen 80 Prozent der Energieressourcen. Die Grenzen des Wachstums wurden
schon vor 40 Jahren angemahnt, aber diese Gedanken sind bislang noch nicht zur
Regierungsbank in Berlin vorgedrungen. Dort bekommt man täglich in den Nachrichten zu
hören, dass die Wirtschaftskrise, das niedrigere Wachstum die Ursache von den Problemen
des Staatshaushaltes ist. Gerade dieses Lamentieren ist es, was mich so ärgert. Denn zum
einen sind diese Knappheit bzw. diese Defizite selbstgemacht. Durch Verlagerung der
Steuern weg von den Vermögenden hin zu den Verbrauchssteuern und Lohnsteuern entstehen
selbstverständlich die Probleme bei steigender Arbeitslosigkeit. Und Arbeitslosigkeit ist
kein Problem der faulen Arbeitslosen, sondern ein Problem der Steigerung der
Arbeitsproduktivität. Hier werden ständig und immer wieder Arbeitskräfte
freigesetzt. Nicht zuletzt ist dies eine Folge des neoliberalen
Denkens, das dem Kapital immer weniger Grenzen setzen will. Die heute bejammerten
Entlassungszahlen bei den deutschen Banken oder bei der Telekom waren schon vor 10 Jahren
z.B. im Buch Globalisierungsfalle nachzulesen. Nein, nicht Wachstum und Entgrenzung der Wirtschaft werden die
Probleme der Finanzierung unserer Gemeinschaftsaufgaben lösen, sondern eine Neuordnung
der Wirtschaft selber. Nicht mehr grenzenloses Wachstum, das nur profit- und
börsenorientiert ist, kann das Ziel von Wirtschaft sein, sondern nur eine regionale
Versorgung der Bedürfnisse der Menschen. Die Wirtschaft darf per Gesetz und ihrer Natur
nach nicht der Bedienung der persönlichen Reichtumsphantasien einzelner dienen, sondern
der Versorgung der Menschen mit den Gütern ihres Bedarfs. Dabei dürfen bestimmte
Auflagen nicht gebrochen werden und seien es nur Öko-Gesetze oder die allgemein geltenden
Arbeitsschutzbestimmungen, Arbeitszeiten und die Form der Bilanzierung. In einer neuen
Betriebswirtschaftlehre kann es keine Arbeitskosten mehr geben, sondern nur
Verteilungsbestimmung des gemeinsam erwirtschafteten Erlöses. Dies wird sicherlich
erleichtert werden, wenn das Eigentumsrecht in der Bundesrepublik Deutschland geändert
wird, Grund- und Boden sich ebenso wie Kapital und Produktionsmittel in allgemeinem Besitz
befinden, und nur noch Verfügungsrechte darüber zu bekommen sind, wenn eine fachliche
Eignung und ein gesellschaftlich festgestellter Bedarf dies begründet. Freigesetzte Menschen wird es dann meiner Meinung nach
immer noch geben, ebenfalls aus den Produktivitätssteigerungen, doch muss man eben dies
einsehen, und nicht diese Produktivitätssteigerungen bejammern. Wenn man davon weg kommt,
an Wachstum, Vollerwerbstätigkeit, Lohnarbeit u.ä. zu denken, dann ist es nur noch ein
kleiner Schritt dieser freigesetzten Menschenkraft zu ermöglichen, diese
Kraft auch in positivem Sinne der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Ja, allein schon das Ausscheiden aus einem immer kleiner werdenden Arbeitsmarkt
stellt ja an sich schon eine positive Tat dar. Anstatt die Arbeitslosen zu
strangulieren und sie zu quälen, oder noch schlimmer, sie für ihren anscheinend
schlimmen Zustand verantwortlich zu machen, ist es notwendig Möglichkeiten zu schaffen,
dass diese Menschen in Freiheit einen Entwicklungsweg gehen und rundweg der Gesellschaft
nützlich sein können. Der Weg dazu ist in erster Linie die Ächtung des Wortes
Arbeitslosigkeit, zweitens eine Grundsicherung aller Menschen ohne eigenes
Erwerbseinkommen. Hier gibt es die Modelle des Existenzgeldes. Und des weiteren sind
kulturelle Stätten zu schaffen, die die Möglichkeit in sich haben, kreative,
bildnerische, handwerkliche und geistige Potenziale zu entwickeln. Würde auch die heutige Regierung nicht immer das Postulat einer
Gesellschaft von Armen und Reichen fördern, sondern eine tatsächliche soziale
Gerechtigkeit, dann, so bin ich überzeugt davon, käme ein kulturelles Leben zum Blühen,
das einen Reichtum für alle schaffen würde, der nicht der heutigen Notwendigkeit des
Geldes bedarf. Dazu wäre ja eine rot-grüne Regierung eigentlich da: blühende
geistige Landschaften zu ermöglichen, dabei nicht auf einen Bereicherungstrieb auf Kosten
anderer setzen, sondern im Rahmen der Möglichkeiten Schritte zu gehen, die diese
Entwicklung ermöglichen. Dazu gehören auf dem Gebiet des Arbeitsmarktes die Umkehrung der
Schuldzuweisungen. Arbeitslose zu zwingen irgendwelche Arbeiten anzunehmen, freiwillige
Tätigkeiten zu ahnden, sinnlose bürokratische Maßnahmen einzufordern und eine ständige
Absenkung des Einkommens gehören abgeschafft. Bei der Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe
gehören in einem ersten Schritt armutsverhindernde Untergrenzen einzuziehen, der
Arbeitszwang, ja jeglicher Zwang gehört abgeschafft. Durch die staatliche Förderung freier Initiativen im ökologischen,
sozialen und kulturellen Bereich werden einerseits Arbeitsfelder geschaffen und zum
anderen an der geistigen Gesundung des Denkens gearbeitet. Allein, wenn die Regierung die
Signale der PISA-Studie hören würde, würde durch die Ermöglichung von Alternativen zur
Staatschule, einer besseren Lehrerausbildung, einem erweiterten Zugang von
Nicht-Lehrer als Lehrpersonal, eine bessere Lehrer-Schüler-Quote usw.
Arbeitsmöglichkeiten geschaffen, davon kann Gerhard Schröder mit seinem veralteten
Denken nicht einmal träumen. Wenn die Regierung die Arbeitslosen nicht mehr als Problem
betrachtet, sondern als eine Chance zur Fortentwicklung dann braucht es auch keine
Arbeitslosenstatistiken mehr und Gerhard Schröder könnte tönen: Ich habe die
Arbeitslosigkeit abgeschafft! Dieter
Koschek
Erinnerungen an Peter
Schilinski
Im Frühjahr 1957 hatte ich in Kiel das Abitur bestanden und an der
dortigen Universität mit dem Studium der deutschen und englischen Literaturwissenschaften
begonnen. Noch keine 20 Jahre alt, fuhr ich im Sommer desselben Jahres auf dem Rücksitz
eines defekten Vespa-Motorrollers mit einem Studienfreund nach Sylt. Wir gingen dort
getrennte Wege. Ich stieß auf meinen Streifzügen in Wennigstedt auf ein geducktes,
reetgedecktes Haus: Witthüs-Teestuben. Täglich verbrachte ich Stunden in den vier
niedrigen, kleinen Räumen. Tee, Kaffee, einfache selbstgebackene Kuchen, Säfte, kein
Alkohol. Leise klassische Musik von meist zerkratzten, rauschenden Langspielplatten. Und
ganz ungewöhnliche Menschen. Ungewöhnlich, weil sie in einem mir bisher kaum gekannten
Maße Eigenwillen und Selbstbewusstsein ausstrahlten. Auf höchst unterschiedliche Weise,
ungefiltert, nicht gestylt oder programmiert. Die Atmosphäre, die sie schufen, zog mich an, machte mich
neugierig. Im engen Eingangsflur des Witthüses Aushänge des Denghooger
Kreises mit Hinweisen auf Öffentliche Samstagsgespräche und
Arbeitskreise über Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? und
Die Kernpunkte der sozialen Frage eine fremde Welt für mich. Dann das
erste Samstagsgespräch, im völlig überfüllten größten Raum (vielleicht 6 mal 9
Meter) des Hauses. Da lernte ich ihn dann kennen: Peter Schilinski. Es ging in diesem Gespräch um Leidbewältigung. Ich höre mich, den
recht selbstgefälligen Jungakademiker argumentieren: Daß Menschen wie Benn oder
Nietzsche nicht so stimmige runde Lebensentwürfe wie der angesprochene Goethe
hervorgebracht haben, liegt doch wohl daran, dass sie eben tiefer gelitten haben als
Goethe. Peter antwortete, ohne jeden Anflug von Rechthaberei: Das ist aber
zunächst nur eine Vermutung. Ich erinnere mich, dass es nicht so sehr der Inhalt
dieser Entgegnung war, was mich hellhörig machte, als vielmehr der Ton, die Haltung, der
sie entstammte. Ich empfand, dass ich nicht abgebürstet, wegargumentiert
worden war, sondern nur auf einen mir nicht vertrauten Weg geführt. Nach diesem Gespräch und der Teilnahme an einigen Arbeitskreisen
war für mich klar, dass ich zu Peter und dieser Lebensgemeinschaft würde zurückkehren
müssen. Ich bat Ulle Weber, Peters damalige Lebensgefährtin, mich für den Sommer 1958
als Servierhilfe in der Teestube vorzumerken. Einen Tag, bevor ich im Sommer 58 nach Sylt reisen sollte, um meinen
Dienst anzutreten, sagte mir Ulle in einem Telefongespräch, sie hätten seit
Wochen Ost-Wind, die Leute lägen alle am Strand, die Teestube sei sehr schlecht besucht
und sie müsse auf meine Mitarbeit verzichten. Da tat ich etwas, das meinem damals eher
schüchternen, nachgebenden Wesen überhaupt nicht entsprach: Ich ignorierte Ulles Absage,
fuhr am nächsten Tag nach Sylt und stand in ihrem kleinen Zimmer. Hier bin ich! (Ich
halte mich nur deshalb so lange bei der persönlichen Vorgeschichte auf, weil mir im
Rückblick klar geworden ist, dass meine damalige Entscheidung, zu der ich mit Sicherheit
auch geführt worden bin buchstäblich lebenswichtig -, meinem ganzen Leben seine
Richtung gegeben hat). Ich wurde freundlich aufgenommen. Der Sommer mit dieser
Menschengemeinschaft um Ulle und Peter gab meinem Leben eine neue, entscheidende Prägung.
Ich verließ die akademische Laufbahn und bereitete mich darauf vor, Schauspieler zu
werden. Vor allem aber keimte in mir die Ahnung, dass mein Leben selbst etwas von mir zu
Gestaltendes sein könne. Peter wurde mein Lehrer und ich denke später mein
Freund. Die Begegnung mit ihm veränderte mein Leben nicht schlagartig und
spektakulär, aber stetig und nachhaltig. Ihm verdanke ich, dass mein Leben ein nicht
endendes Lernen wurde. Es ging nicht mehr darum, Wissen anzuhäufen, um dann besonders
gebildet oder schlau zu sein (oder mit einem vermeintlichen Geheimwissen anderen Menschen
zu imponieren oder sie gar auszustechen), sondern darum, meinen Gedanken und Vorsätzen
Zugang zu meinem Verhalten zu schaffen. Welch ein Ziel! Es ging darum, mich für die Welt
nach und nach zu verwandeln. Die 43 Jahre nach diesem Sommer auf Sylt haben mich gelehrt,
wie mühsam diese Arbeit ist, wie vieler kleinster Schritte es bedarf, wie herb die
Rückschläge sind, wie unsäglich klein die Erfolge erscheinen. Die Euphorie des
Anfängers verflog, aber Peter hatte mit seinem feurigen Temperament einen Funken in mir
entzündet, eine Begeisterung, die nie erloschen ist. Die Freude, die er bei der Vorstellung empfand, dass er seine
Fahrt nach Hamburg auf einer Autobahnraststätte unterbrechend in seinem alten
Volkswagen Wie erlangt man Erkenntnisse ... liest, und ich an einem anderen
Ort das gleich tue, ist unvergesslich. - Wie klärend und kräftigend war die
Dringlichkeit, mit der er mich bei einem seiner Durchreisebesuche in Rendsburg auf einen
Vortrag von Rudolf Steiner in Die soziale Grundforderung unserer Zeit hinwies!
Wir lasen dann gemeinsam darüber, dass das meiste, was sich zwischen Menschen als
Liebe geltend macht, nichts weiter ist als eine Illusion, eine furchtbare
Selbsttäuschung. Mein Jammern darüber, dass alle Liebesschwüre, die ich seit der
Pubertät bis dahin geleistet hatte, Ausfluss eines egoistischen Missverständnisses
gewesen sein sollten, wich bald der schmerzlichen, aber stärkenden Erkenntnis, dass es
wohl galt, noch einmal neu anzufangen, Fremdes zu verstehen, Unvertrautes zu lernen. Die Unermüdlichkeit, mit der er regelmäßig an gewissen Tagen bei
Wind und Wetter im Dammtor-Bahnhof seinen jedermann schwenkte, wie ein
Bananenverkäufer lauthals verkündete: Die einzige unabhängige Zeitschrift der
Bundesrepublik, sich dem Lächeln, dem Spott oder gar Anpöbeleien der
Vorübergehenden aussetzend, blieb für mich in allen Augenblicken des Verzagens und
Versagens ein leuchtendes Beispiel, wie mutig und unbedingt man sich für eine Sache
einsetzen kann, die einem wirklich am Herzen liegt. Die Zeit, in der ich seine Aufsätze für den jedermann
und seine Kommentare zu Steiners Die Kernpunkte der sozialen Frage
korrekturlesen durfte, brachte mich sowohl den Inhalten als auch dem Menschen Peter immer
näher. Ich ahnte damals und weiß heute, dass ich mich wegen seiner
Widersprüchlichkeiten zu ihm hingezogen fühlte. Er lebte seine Widersprüche, seine
Spannungen. Und er rang mit ihnen. Er war eben alles andere als ein selbstzufriedener
wohlausgebildeter Modellanthroposoph. Und die Ringenden standen mir allezeit
näher als die Runden, Glatten, scheinbar Gelungenen. Wie er mit seinen Spannungen lebte
und im Zusammenleben mit anderen Menschen damit umging, machte ihn für mich so
glaubwürdig. Zum Beispiel seine Redseligkeit. Peter war ein wortgewandter, ja wortgewaltiger
Mensch und war durchaus in der Lage (so manches Mal im Verein mit mir), Menschen
niederzureden (wir steckten damals dafür so manchen Rüffel von Ulle ein). Andererseits
habe ich nur wenige Menschen kennengelernt, die wie er hingegeben zuhören konnten. Dann
fühlte man sich von ihm zutiefst verstanden. Und seine Cholerik: Wie oft ließen seine feurigen sicher
auch häufig nicht gerechtfertigten Zornesausbrüche das kleine Witthüs erbeben.
Dann wiederum strahlte er eine Milde aus, die selbst dem Fremdesten, Abseitigsten
Verständnis entgegenbrachte. Peters unbändiger Sinnenfreude stand eine hingebungsvolle Verehrung
der geisteswissenschaftlichen Arbeit gegenüber und sicher auch oft entgegen . Es
war eine Wonne, mit ihm zu genießen ob eine köstliche Mahlzeit, Musik, Bilder,
Natur. Wie konnte er sich freuen! Wie konnte er lachen! Ich vergesse nie, wie er, als ich
ihn nach einigen Wochen eifrigen Studiums esoterischen Schrifttums schüchtern
fragte, wann es denn nun wohl soweit sei mit dem Wahrnehmen der Aura und so weiter, sich
ausschütten wollte vor Lachen, und sich heftig auf sein steifes Bein schlagend
hervorprustete: Willst die Heinzelmännchen sehen, was? Das war
eindrücklich und erhellender als ein langer Vortrag über die Mühseligkeiten beim
Ersteigen der Erkenntnisstufen. In der Arbeit an den Texten war Peter äußerst konzentriert. Er
besaß die seltene Begabung, die Worte mit Leben zu erfüllen, scheinbar Abstraktes
anschaubar, erlebbar zu machen. Er konnte Menschen für den Geist begeistern. Ihm verdanke
ich die Lust geisteswissenschaftlich zu arbeiten und das Gelernte, Erfahrene im Leben zu
prüfen. Es bestand für niemanden, der ihn näher kennen lernte, der
geringste Zweifel, dass für ihn die Verbreitung der sozialen Dreigliederung und
überhaupt des Gedankengutes von Rudolf Steiner im Mittelpunkt seiner Arbeit und seines
Lebens stand. Und obwohl er oft genug unter Existenzängsten litt, hat er im Eintreten
für diese seine Lebensinhalte immer Unbestechlichkeit und ungebrochenen Mut bewiesen. Dieses Ergriffensein von der
drängenden Notwendigkeit, die Dreigliederung auszubreiten und an Einfluß gewinnen zu
lassen, machte ihn sicher oft ungeduldig. Er hatte die Neigung, Menschen an sich und die
Arbeit zu schnell und zu verpflichtend heranzuziehen. So fühlte sich mancher von
ihm überwältigt und unfrei gemacht. Ich habe das nie so erlebt. Bei allem entschiedenen
Ernst und aller Unverblümtheit seiner kritischen Auseinandersetzungen mit mir, habe ich
dahinter immer sein Wohlwollen, sein Verständnis und seine Bereitschaft, meine
Andersartigkeit zu achten, gespürt. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart nie unfrei.
Seine Ehrlichkeit und erfrischende Offenheit waren für mich Anstoß zu eigenem Tun. Mit zunehmendem Alter wurde Peter immer klarer, schnörkelloser. Als
wir uns, nachdem wir jahrelang keinen Kontakt gehabt hatten, bei einem Seminar mit Anton
Kimpfler in Wasserburg am Bodensee wiedertrafen, sagte er mir nach Ablauf der drei Tage:
Ich habe immer gedacht, Freundschaft bedürfe der ständigen Pflege durch
Gespräche, Briefe, fortlaufende Information. Du hast mich gelehrt, daß sie auch ohne das
Bestand haben kann. Diese Äußerung hat mich beglückt und zutiefst beschämt. Denn
ich hatte seine Bedürfnisse nicht nur nicht befriedigt, sondern nicht einmal geahnt oder
bedacht. Er wurde immer direkter, umwegloser. Als ich ihn wenige Wochen vor
seinem Tod besuchte, hatte er mich gebeten, ihm etwas vorzulesen. Ich brachte also meinen
geliebten Rilke mit und begann, ihm aus den Duineser Elegien vorzulesen. Schon nach
wenigen Zeilen unterbrach er mich, griff ins Bücherbord neben seinem Bett und reichte mir
einen Novalis-Band. Und so las ich ihm denn aus den geistlichen Liedern vor: Nun weint auch keiner mehr allhie, Es kann zu jeder guten That Er lebt und wird nun bei uns seyn, Peter ist mein Freund. Ich danke ihm. Claus Boysen Biografisches zu Peter Schilinski
Von Ria Schilinski, Regine Koch, Claudia Schilinski, Kurt Thede,
Günter Voigt, Lia Maier-Härting, Ulle Weber, Ingrid Feustel und Tatjana Kerl,
zusammengetragen und erweitert von Dieter Koschek. Es sind bislang nur Stichworte geblieben. Die Arbeit an einer
Biografie konnte noch nicht getan werden. Es fehlt die Zeit, um die genannten
Personen, sofern sie noch leben, und die genannten Orte aufzusuchen, tiefer zu
recherchieren und diese mit Peters Erinnerungen, die seine Veröffentlichungen
durchdringen, in ein Verhältnis zu bringen. So ist dieser Beitrag eine Bitte und eine Aufforderung an alle, die
Peter kannten, ihre Erinnerungen an ihn und sein Wirken an die Jedermensch-Redaktion in
Wasserburg zu senden. 1916 1922 1926 1932 1935 1937 1941 1942 1945 1948 1949 Zwischen 45 und 52 trampte Peter immer wieder durch Deutschland auf
der Suche nach aktiven Dreigliederern. Wer weiß, wen er dabei besuchte? 1950 1951 1956 1958 1960 1962 1963 1964 1965 1966 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1976 1977 1978 1979 1981 1984 1982 1983 1984 1985 1986 1987; 1988 1990 1992 11.3. 1993 Dieter Koschek |